Wuppertaler Kultur Nathan hört Depeche Mode

Intendantin Susanne Abbrederis spricht kurz vor der Premiere über Lessings Stück und sagt: „Toleranz ist nicht die Lösung .“

Das gesamt Ensemble spielt im „Nathan“ mit.

Foto: Klaus Lefebvre

Wuppertal. Als Dramaturgin begleitet Theaterintendantin Susanne Abbrederis derzeit die Endproben von „Nathan der Weise“. Mit WZ-Redakteurin Anne Grages sprach sie über Lessings letztes Stück.

Frau Abbrederis: Wie sind Sie auf Shirin Khodadadian als Regisseurin aufmerksam geworden?
Susanne Abbrederis: Sie gehört zu den extrem jungen, modernen — und klugen Regisseurinnen. Sie hat bereits an einigen großen Häusern gearbeitet und zahlreiche Uraufführungen deutscher Autorinnen inszeniert. Ich kenne sie von meinen Stationen in Essen und Wien: Shirin Khodadadian wird ein Stück nicht runterreduzieren, sondern zum Blühen bringen.

Der „Nathan“ wurde und wird derzeit vielerorts gespielt. Wie wollen Sie sich von den anderen abheben?
Abbrederis:
Manche Inszenierungen finde ich zu kurz gedacht. Neulich habe eine gesehen, die kam als Politthriller mit Sprenggürtel, Springerstiefeln und ISIS daher. Dabei ist das kein Handlungsstück wie bei Schiller, sondern ein Ideendrama.

Wie bringen Sie die Ideen auf die Bühne?
Abbrederis:
Das Zeitlose von 300 Jahren trifft sich im Heute. Die Kostüme zitieren die Historie; wir nutzen viele Spiegel-Elemente und die große Drehscheibe: Auf ihr findet die Welt statt. Durch das Stück zieht sich Musik von Björk über die Pet Shop Boys bis zu Depeche Mode: „Welcome to my World“ — das ist junge, heutige Musik, aber nicht anbiedernd inszeniert.

Unter welchem großen Thema sehen Sie Lessings letztes Stück?
Abbrederis:
Das große Thema des Stücks ist die Einsamkeit. Alle Figuren sind Suchende, sind verlorene Menschen in einer zerbrechlichen Welt.

Ist das sein geistiges Vermächtnis?
Abbrederis:
Es hängt auch mit Lessings persönlicher Situation zusammen: Er hatte kurz vor Beendigung des Stücks seine Frau und sein gerade geborenes Kind verloren, lebte einsam und krank als Bibliothekar in Wolfenbüttel. Außerdem hatte er im Herzogtum Braunschweig nach dem Religionsstreit mit dem Hamburger Hauptpastor Goeze Publikationsverbot für alle religösen Themen. Deshalb hat er mit der Ringparabel die Form des Märchens im Märchen gewählt. Aber er hat nicht geglaubt, dass dieses Stück je aufs Theater kommt.

Junge Menschen sagen, sie verstehen die Werke von Lessing und Goethe einfach nicht mehr. Machen Sie ihnen ein Angebot?
Abbrederis:
Das Problem kennen wir. Ich habe mit der Theaterpädagogin Silvia Martin abgestimmt, dass sie Lehrer verstärkt anspricht. Wir wollen Termine anbieten, bei denen ich den Schülern das Stück sprachlich und inhaltlich nahebringe. Im Februar werden wir für die Schulen eine Vormittagsvorstellung versuchen. Außerdem wird es in der Begegnungsstätte Alte Synagoge eine Vortragsreihe zum Stück geben. Es hat mich allerdings verwirrt, dass der „Nathan“ nicht mehr im Lehrplan steht — das Stück ist doch eine Grundlage der deutschen Geisteshaltung.

Schlägt sich das Bestreben nach besserem Verständnis auch in der Bühnenfassung nieder?
Abbrederis:
Ja, sicher. Wir haben gestrichen, was gar nicht mehr verständlich ist, und in Richtung Story verdichtet.

Der „Nathan“ wird oft als Paradestück für einen Appell an die Toleranz angesehen. Ist das auch Ihre Auffassung?
Abbrederis:
Es ist kein Toleranzstück, sondern ein Stück gegen alle Religionen: Was ist überhaupt der Sinn von Religion? Toleranz ist auch nicht die Lösung des Problems, sondern erst die Voraussetzung, um die Dinge wirklich betrachten zu können. Aber Toleranz hat es nie gegeben. Wenn man die Juden aus dem Stück gegen Muslime auswechselt, ist man bei der jähen Aktualität.

Sie kommen letztendlich zu einer pessimistischen Interpretation?
Abbrederis:
Es ist eher ein melancholisches Stück. Das bleibt auch so bis zum Schluss, weil es keine Erlösung gibt. Meines Erachtens gibt es in der Welt aktuell auch keine Erlösung.