Warum wird jetzt Pina Bauschs Stück „Blaubart“ aufgeführt?
Tanztheater Pinas Blaubart wird sorgsam rekonstruiert
INTERVIEW Nach 26 Jahren wird das Bausch-Stück über Béla Bartóks Oper „Herzog Blaubarts Burg“ erstmals wieder in Wuppertal aufgeführt.
Die Frauen streben zu Blaubart, wollen von ihm gekämmt werden; danach beginnt eine nach der anderen mit ihrer Mähne nach ihm zu schlagen – bis wiederum eine nach der anderen sich löst, davon schreitet, dabei ihre einzelnen Haarsträhnen zählt.
Eine Szene aus Pina Bauschs Stück: Blaubart. Beim Anhören einer Tonbandaufnahme von Béla Bartóks Oper „Herzog Blaubarts Burg“, das 1977 in Wuppertal uraufgeführt wurde. Keine Wiederaufnahme, eher eine sorgsame Rekonstruktion soll es 2020 werden, mit jungen Tänzern. Die WZ besuchte eine Probe, sprach mit Akteuren: Intendantin Bettina Wagner-Bergelt, Probenleitern, die früher selbst auf der Bühne standen, das Stück teilweise entscheidend prägten, Barbara Kaufmann, Jan Minarik und Beatrice Libonati, sowie zwei jungen Tänzern, die jetzt in die Titelrollen von Blaubart und Judith schlüpfen, Oleg Stepanov und Tsai-Wei Tien.
Bettina Wagner-Bergelt: Es ist seit Jahren geplant, kann aber wegen der Rechte erst seit Januar 2020 gespielt werden – deshalb ist unser Trailer bis 31. Dezember ohne Musik gelaufen – und ich persönlich finde es sehr wichtig, dass die frühen Stücke gespielt werden – weil sie gut sind. In den 70er Jahren hat Pina Bausch viel experimentiert, mit verschiedenen Genres. Um dann deren Grenzen zu sprengen. Blaubart ist ein zentrales Stück, radikal, existenziell. Pina Bausch auf der Höhe ihrer Kunst, ihres Mutes.
Was zeichnet das Stück aus?
Wagner-Bergelt: Es ist eine Kette von emotionalen Ausbrüchen, dabei klug, virtuos und streng gebaut. Die Emotionen werden durch die Form gehalten, die Form durch die Emotionen gesprengt. Ein großartiges Konzept. Paartänze, viel Partnerarbeit natürlich bei dem Thema, wilde, brutale, aber auch sehr viele zärtliche Elemente.
Barbara Kaufmann: Es ist ein Meilenstein in Pinas Arbeit. Der Tanz entsteht aus den tiefen eigenen Emotionen und den daraus motivierten Gesten und wird durch intensive Wiederholungen eindrücklich und ausdrucksstark. Es ist ein psychologisches Stück über die Zustände aller Judiths und Blaubarts, über die Frage, woher Gewalt kommt und wie man miteinander umgeht. Es löst eine ganz tiefe Erschütterung in den Tänzern sowie in den Zuschauern aus.
Oleg Stepanov: Es geht um Liebe, die so stark ist, dass sie Schmerzen in Beziehungen bringt. Wir beschäftigen uns mit dem Thema Liebe und entdecken viele dunkle Plätze, müssen über Grenzen gehen. Das bedeutet sehr intensive Gefühle. Blaubarts Charakter ist gebrochen, er versucht darüber hinwegzukommen, sucht in Judith Rettung, das Bessere. Man liebt, egal wie.
Die Musik, die, wie der Titel anzeigt, den Inhalt maßgeblich prägt, kommt vom Tonband, das auf einem Wägelchen montiert ist. Ein eigener Akteur, der von Blaubart bedient wird. Der dafür die Tasten beherrschen muss. Die Musik gibt Bewegung und Innehalten vor, dirigiert die Tänzer.
Welche Rollen spielen Musik und Text?
Wagner-Bergelt: Es wird nicht gesprochen, mal gesummt, oder geschrien, ansonsten haben Musik und Tonband eine wichtige Rolle. Blaubart kontrolliert und dynamisiert damit die gesamte Handlung. Ein unglaublicher Mechanismus: Mit der manischen Wiederholung der Musik Bartóks, zentraler Stellen daraus, treibt er die Handlung an und strukturiert sie.
Wie geht Pina Bausch mit der Geschichte des Blaubart um?
Wagner-Bergelt: Das ist sehr komplex – Pina Bausch spielt mit den Themen Liebe, Gewalt, Hassliebe, wechselt die Seiten, die Perspektiven, Opfer, Täter. Blaubart ist kein Monster, er ist ein Getriebener, wie alle anderen im Grunde auch. Liebe wird durch alle Gefühlslagen dekliniert. Es gibt komische Szenen, in denen die Männer Machos „spielen“. Damit bringt sie wieder einen Moment von Leichtigkeit hinein.
Ist Judith Blaubart ausgeliefert?
Wagner-Bergelt: Bis zu einem gewissen Grad, ja. Die Männer sind auch Opfer, nicht nur die Frauen. Judith ist unfassbar beharrlich in ihrer Liebe, will wissen, ob sie die Wichtigste ist, insistiert, lässt nicht locker, wird hysterisch, aber sie kriegt Blaubarts Liebe nicht so, wie sie will. Die Kraft der Bilder ist ungeheuerlich, intensiv und stark, auch wenn wir heute vielleicht an das Thema Gewalt, Liebe, Sexualität gewöhnter sind, Werke gesehen haben, die auch sehr direkt mit diesen Themen umgehen. Dieses Stück ist psychologisch und choreographisch so genau gearbeitet. Es verschlägt einem den Atem. Es ist ein Meisterwerk.
Beatrice Libonati: Nein, es geht um eine riesige Liebe, die so stark ist, dass sie immer weitergeht. Heute trennen sich die Menschen schneller, dabei ist es wichtig, dass sie lernen sich zusammen zu raufen. Das Stück hat ein Happy End, da sie sich provozieren, um mehr voneinander zu erfahren und trotzdem weiter zusammen bleiben.
Jan Minarik: Es gibt immer Leute, die gegen alles Fremde sind, nach Haut- oder Haarfarbe urteilen. Umso schöner ist es, dass die Tänzer auch andere Haut- und Haarfarben haben. Die Gefühle sind damals wie heute dieselben.
Sie haben den Blaubart mitentwickelt. Wie war das damals – das Stück hat ja zunächst schockiert.
Minarik: Ich habe es geliebt, mit dem Publikum zu kämpfen und es auf meine Seite zu ziehen. Alle Stücke Pinas sind wunderschön, aber Blaubart ist ein besonderes Stück in Wuppertal und in der ganzen Welt.
Libonati: Ich war 1979 erstmals dabei. Ich mag es auch, gegen den Strom zu schwimmen.
Akteure sind die jungen Tänzer des Ensembles, die um Gasttänzer und Abgänger der Folkwang Hochschule verstärkt wurden. Wie wurde die Besetzung zusammengestellt?
Wagner-Bergelt: Ich habe zusammen mit den vier Probenleitern eine Audition durchgeführt. Jan Minarik und Beatrice Libonati war wichtig, dass junge Tänzer mitwirken, nicht älter als das Ensemble 1977. Davon haben wir nicht genug im Ensemble. Das Stück ist physisch und psychisch sehr anstrengend.
Wie ist es, wenn über 40 Jahre später andere in die Rollen schlüpfen?
Minarik: Ich freue mich darüber, auch wenn sie etwas anders machen. Vielleicht ist die Technik heute anders, die Themen aber sind geblieben: Liebe, Hass, Hassliebe.
Libonati: Es ist schön, dass das Stück wieder aufgenommen wird, gerade in unserer Zeit, wo Gewalt in der ganzen Welt herrscht. Und zu spüren, dass das, was wir damals gespürt haben, andere Leute herausarbeiten.
Was erwartet die Wuppertaler 2020?
Minarik: Sie werden wieder überrascht sein, dass wir dieses schöne Stück wieder aufführen.
Libonati: Die Schönheit sitzt tief. Das Publikum wird sich auch nach der Aufführung damit beschäftigen.
Es geht um Rekonstruktion: In dem Probenraum in der Lichtburg in Barmen werden Filme geschaut, die auf zwei Monitoren abgespielt werden. Intensiv werden einzelne Szenen immer wieder studiert. Tänzer und Probenleiter sprechen darüber, versuchen Lücken zu schließen, die die verschiedenen Film-Perspektiven lassen.
Ist der Blaubart von 2020 der Blaubart von 1977?
Wagner-Bergelt: Es ist eine Rekonstruktion, keine Neuinszenierung. Bei den Proben wird deutlich, wie wichtig Jan und Beatrice sind – er hat das Stück kreiert, sie hat es 1979 mit Pina erarbeitet und viele Male getanzt. Und nun bringen sie ihr phänomenales Körpergedächtnis ein. Ebenso Barbara und Héléna. Das kann kein Video ersetzen. Es ist eine Forschungsarbeit auf vielen Ebenen. So viele sich widersprechende Notizen. Das Material ist reich, aber es gibt so viele Fassungen, mal mit zehn, mal mit 13 Paaren. Wir haben zwölf. Die Atmosphäre in jeder Szene muss stimmen, es gibt nicht die eine Wahrheit, und keine Pina, die entscheidet. Das sind jetzt Jan und Beatrice, Barbara und Héléna, die das Wissen haben und den Mut.
Wie wichtig ist die Annäherung an die Urfassung des Stücks?
Tien: Ich versuche nahe ans Original zu kommen und die Bewegungen mit all ihren Details und Qualitäten zu fassen. Die Emotionen müssen wir selbst finden
Stepanov: Um uns dem Original zu nähern, haben wir zum Glück Jan und Beatrice. Und dann müssen wir unsere Erfahrung dazu tun.
Führt das jetzige Erarbeiten des Stücks zu einem endgültigen Ergebnis?
Wagner-Bergelt: In der darstellenden Kunst gibt es das nicht, es ist ein lebendiger Prozess. Nach der Aufführung wird kritisiert, verbessert, Entscheidungen überprüft. Dafür haben wir Probenleiter. Für jedes Stück sind ihre Praxis, ihr Können und ihre künstlerische Erfahrung wichtig. Es braucht die Lebendigkeit aus ‚Lernen am Original‘ und ‚dem Eigenen Raum geben‘: ich bin anders und muss meinen Zugang für mich finden. Die Qualität ist immer das oberste Ziel.
Beatrice Libonati übernimmt die Leitung, aber wenn es um Blaubart geht, ist Jan Minarik gefragt. Wenn die Erinnerung, das Video nicht weiterhelfen, wird die Frage offen in die Probenleiterrunde getragen. Die Tücke steckt im Detail: Stehen Tänzer mit dem Rücken zu den Zuschauern? Wo steht Blaubart in dieser Szene – hinter oder vor dem Tonband? Wo sind die Männer, wo gehen sie hin?
Wie verlaufen die Proben?
Barbara Kaufmann: Sehr spannend. Es ist wichtig, dass jeder seine eigene Relevanz entdeckt. Das Stück wird nicht einfach wiederholt, sondern neu belebt. Die Herausforderung besteht darin, das Stück, das existiert, zu entdecken, und es gleichzeitig neu entstehen zu lassen. Das braucht viel Geduld. Einerseits bringen die Tänzer ihre eigenen persönlichen Erfahrungen mit, andererseits sprechen die Bewegungen und die Choreografie für sich und machen das Drama spürbar. Am Anfang stehen wie beim Text lernen genaue Bewegungsabläufe, die geübt werden. Die Einzelteile werden in immer größeren Abschnitten geprobt und zum ganzen Stück zusammengefügt.
Drei Tänzerinnen lernen Judiths Rolle, studieren intensiv die Videos, gehen immer wieder einzelne Bewegungsabläufe durch, wiederholen sie. Ebenso gibt es drei Blaubart-Tänzer, die die Bedienung des Tonbandgerätes besprechen, das Zusammenspiel mit den Musiksequenzen. Waren früher die Reifen größer, das Kabel kleiner? Gab es Bremsen? Manchmal treffen sich Judith und Blaubart am Monitor, schauen gemeinsam, besprechen sich. Alle Tänzer proben immer wieder einzelne Drehungen, Bewegungen - jeder für sich, manchmal zeigen Beatrice Libonati oder Héléna Pikon die Sequenzen mit.
Libonati: Das Regiebuch ist nicht komplett. Wir schauen viel Video, erinnern auch viel. Es gibt viele verschiedene Aufnahmen. Es fehlen mindestens fünf Leute, je nach Video. Die Namen, die Positionen sind durcheinander, es wird nicht gleich aufgeführt. Damit müssen wir umgehen. Zugleich wollen wir den Tänzern ein gutes Gefühl vermitteln.
Minarik: Pina hatte die Genialität, die Tänzer in genauem Verhältnis auf der Bühne aufzuteilen. Wir müssen schauen, wie wir das hinkriegen.
Nach einem längeren Durchlauf folgt eine Pause, wird die Aufstellung der nächsten Szene vorbereitet: Beatrice Libonati und Héléna Pikon gehen mit einem Bühnenplan durch den Raum, überlegen, wo einzelne Tänzer stehen sollen, drehen sie, korrigieren, achten darauf, dass die Bewegungsachse für Blaubart und Judith frei bleibt. Barbara Kaufmann trägt die Positionen auf dem Szenenplan ein.
Seit wann wird gemeinsam in der Lichtburg geprobt?
Libonati: Seit Mitte Dezember arbeiten wir gemeinsam hier. Wir lernen erst jetzt die Tänzer kennen. Wir haben mit Bewegung begonnen, um herauszukriegen, wer was am besten kann. Man kann ja viel vorbereiten, das aber nicht. Ich muss spüren, was die Tänzer geben können.
Judith versucht sich an Blaubart empor zu winden, seinen Kopf zu streicheln, er drückt sie brutal zu Boden, sie aber strebt wieder empor, insistiert. Immer heftiger und schneller werdend wiederholt sich der Vorgang.
Es gibt viele, durchaus körperlich-heftige Wiederholungen. Wie gehen Sie damit um?
Tsai-Wei Tien: Indem ich nicht denke, nicht zähle, einfach mache. Jedoch ohne die Kontrolle zu verlieren. Die Wiederholungen machen mich stärker. Die Bewegungen sind gewalttätig, das ist furchtbar, aber ich habe den Willen dagegen anzukämpfen.
Stepanov: Einmal als wir zum ersten Mal eine sehr schwierige und gewalttätige Szene versuchten, hatte ich Angst, der Gewalt folgen zu können, Angst dass ich so eine Aggression in mir finden könnte. Das war überwältigend und sehr schwierig zu akzeptieren.
Eine, auch der Auflockerung dienende Übung beendet die Probe: Die Tänzer queren hintereinander und lauthals lachend den Raum zur Ausgangsseite hin. „Alle müssen mal laut lachen in dem Stück, auch Blaubart und Judith“, sagt Beatrice Libonati und Jan Minarik schickt zum Abschied ein Dankeschön hinterher.