Tanztheater: Viel Applaus für Pina Bauschs Brecht
Tanztheater Pina Bausch überzeugt mit Neueinstudierung von „Die sieben Todsünden“.
Wuppertal. Die Wuppertaler lieben ihr Tanztheater Pina Bausch. Und nicht nur sie. Als Josephine Ann Endicott nach der Pause sagt: „Ihr seid alle noch da, alte, neue und junge Kollegen — und auch ich“ liegt ein Parforceritt durch die Abgründe der Gesellschaft hinter den Opernhausbesuchern und eine ausgelassene, revueartige Collage vor ihnen. Und so erntet die 67-jährige Grande Dame aus Australien erlöst wirkende Lacher und Szenenapplaus, bevor sie betont Schwung holt und in unnachahmlicher Weise (schließlich ist sie auch Probenleiterin) das Tanzensemble anführt. Das ausverkaufte Opernhaus feiert, zehn Jahre nach der letzten Aufführung, die Neueinstudierung des zweiteiligen Brecht-Weill-Abends „Die sieben Todsünden“ mit standing ovations.
Es ist das Jahr 1976, als Pina Bausch das Stück um die naive, nach Glück suchende Anna (II) bearbeitet, die für die Familie das Geld für ein Haus „anschaffen“ soll und dafür ihren Körper — gezwungen von ihrem Alter Ego (der realitätsgetriebenen Anna I) und der feindlichen, ausbeutenden Männerwelt — verkauft. Typisch Brecht’sche Kost, die einerseits die Zeit des frühen 20. Jahrhunderts spiegelt, andererseits nicht an Aktualität verlieren will. 1976 ist in Deutschland der Geschlechterkampf in vollem Gange, die #metoo-Bewegung noch in weiter Ferne. Bausch zeigt, wie die unterdrückte, zur Prostitution gezwungene Frau brutal zur Schau gestellt wird und macht zugleich die Problematik menschlicher Beziehungen deutlich. Erstmals verknüpft sie dafür Sprechen, Schreien, Singen und Tanzen zu ihrer ureigenen Ästhetik, die so typisch für sie werden soll.
Es ist der Abend der großen alten und der groß werdenden jungen Künstler. Bei der Uraufführung tanzte die junge Endicott die Anna II, am Sonntag schlüpft Stephanie Troyak in die Rolle in all ihrer Verletzlichkeit, ihrem Aufbegehren und Gebrochenwerden. Angetrieben und eingefangen wird sie von ihrer Schwester — dargestellt von der in Berlin lebenden Sängerin Cora Frost. Der erste Teil von „Die sieben Todsünden“ ist bedrückend, kalt, dunkel, bedrohlich inszeniert. Unterstützt wird das Tanzensemble durch vier Sänger der Oper und das SinfonieOrchester Wuppertal mit zwei Solisten, die unter Leitung von Jan Michael Horstmann einfühlsam und präzise agieren.
Von seiner spielfreudigen, überschäumenden Seite kann sich das Tanztheater nach der Pause zeigen. Zwar thematisiert „Fürchtet euch nicht“ dasselbe Thema, tut dies aber als bunte, scheinbar ausgelassene Revue. Doch schrammen die Szenen immer wieder an Hysterie und Menschenverachtung vorbei, tanzen und singen alle am Abgrund zu den Songs von Bertold Brecht und Kurt Weill. Besonders deutlich wird dies, wenn der 1,94 Meter große Jürgen Hartmann vom Schauspielhaus Bochum immer wieder die kleine Ditta Miranda Jasifi bedrängt, sie schließlich vergewaltigt und sich dann der Nächsten zuwendet. Oder natürlich auch in den Liedern, mit denen Therese Dörr, ebenfalls aus Bochum, oder Cora Frost Gänsehaut erzeugen. Dörr erweist sich dabei als würdige Nachfolgerin Mechthild Großmanns, etwa wenn sie sich an „Surabaya Johnny“ abarbeitet.
So richtig springt der Funke aufs Publikum über, als sich Endicott, Nazareth Panadero, Julie Anne Stanzak und Helena Pikon zum „Eifersuchtsduett“ lasziv auf ihren Fellen niederlassen, um im Attraktivitätswettbewerb heftigst die Contenance zu verlieren. Nicht zu vergessen Ingeborg Wolff, eine weitere Wuppertaler Grande Dame, mit einem wunderbaren „Das Meer ist blau“-Auftritt.