Uraufführung: Tanztheater Wuppertal Pina Bausch und Papaioannous "Seit sie"

Uraufführung: Tanztheater Wuppertal Pina Bausch spielt das Stück „Seit sie“ von Dimitris Papaioannou im Wuppertaler Opernhaus.

Foto: Julian Mommert

Wuppertal. Er ist ausgebildeter Maler. Mit viel Liebe zum Detail fertigt Dimitris Papaioannou auf der Bühne seine Bilder, reiht sie aneinander, bittet zum kontemplativen Betrachten. Fast ohne Tanz und ohne ein Wort. Die visuell kraftvollen Inszenierungen des 53-jährigen Theaterregisseurs prägen sich gleichwohl (oder gerade dadurch) wunderbar ein.

Sein jüngstes Kunstwerk konnten die Wuppertaler am Samstag als Uraufführung in ihrem Opernhaus genießen: Das Tanztheater Wuppertal Pina Bausch führte sein Stück „Seit sie“ auf, das erste komplett neue, abendfüllende Stück eines Gastchoreographen. Ein Stück, das zum Ensemble und seiner Geschichte sowie zu dem durch Intendantin Adolphe Binder ausgerufenen Transformationsprozess passt, der das Tanztheater in die Zukunft führen soll.

Zunächst ist da ein Stuhl, den ein Arm aus der Seitenwand auf die Bühne hebt. Ein Mann tritt darauf und stellt einen zweiten Stuhl hinter sich ab. Auf den wiederum ein weiterer Mann seinen Fuß setzt, einen dritten Stuhl hinter sich positioniert. Der Beginn einer stillen Polonaise, die 17 Tänzer einmal quer über die Bühne und wieder hinaus führt, ohne dass sie den Boden berühren. Nur entfernt fühlt man sich an Polonaisen aus Pina Bausch-Stücken erinnert, dieser Reigen entfaltet seine eigene vorsichtige, anrührende, wenn auch etwas langatmige Wirkung. Vor dem Publikum liegen zirka 80 Minuten, die seine Geduld immer wieder (heraus-)fordern.

Im „Neuen Stück I“, dessen Titel „Seit sie“ jeder für sich selbst zu Ende denken kann, geht es um nichts Geringeres als den Menschen, der auf der Suche nach sich selbst, seiner Identität, seiner Balance ist. Da wird der Körper zum Untersuchungsobjekt, das sich mit Hilfe der Beine anderer (und optischer Täuschungen etwa durch schwarze Handschuhe oder vorgehaltene Bretter) fortbewegt oder kocht. Der Kopf wird „abgesägt“ oder zwischen entblößte Männerschenkel gesteckt, lange Haarpracht als Tablett für Gläser genutzt, zwei nackte Körper so übereinandergelegt, dass sie nur noch undefinierbare Masse sind, die „abtransportiert“ wird. Die teils ernsten, teils spielerischen und humorvollen, teils mythologisch angehauchten Szenen sind typisch für Papaioannou.

Das gilt auch für das immer wiederkehrende Moment des sich Häutens: Menschen werden aus Kleidern geschnitten, aus großen Verpackungsschichten befreit, schälen sich aus ihren Kleidern, während sie sich den schwarzen Schaumstoffmattenberg (Tina Tzoka), der die Bühne nach hinten abschließt, hinunterrobben. Ziehen sich wieder an oder werden angezogen. Die Tänzer sind stets in Bewegung — schnell, langsam, ziellos, kriechend, umständlich, forsch. Allein, in Gruppen, auf Rollen, auf Tischen, mit Stöcken oder eben auf Stühlen, die gerne auch zum akrobatischen Balanceakt genutzt werden. Und zentrales Utensil an diesem Abend sind — wie in Pina Bausch-Stücken auch. Und so wie sie gibt es bei Papaioannou das Element der Wiederholung und des mal mehr mal weniger ernsten Geschlechterkampfes.

Dabei scheint seine Versuchsanordnung strenger — von den Kostümen (Thanos Papastergiou), die hell oder dunkel, nie aber bunt sind, über die Musik (Thanasis Deligiannis, Stephanos Droussiotis), die nur selten beschwingte Walzertöne anstimmt, meist aber Spannung erzeugt, bis hin zum reduzierten, punktuellen Licht (Fernando Jacon, Stephanos Droussiotis), das ohne technischen Schnickschnack auskommt und den Blick des Malers offenbart.

In einem griechischen Videobeitrag sagte der Theaterregisseur 2012, dass er Pina Bausch verehre, weil sie (wie er) die Menschen und den Zirkus des Lebens liebe. Seine „Zirkusvorstellung“ beschließt er mit einem offenen Ende: Ein einzelner Tänzer schultert, auf einem Stuhl stehend, eine Reihe Stühle zu einem riesigen Berg — bedacht und von den Erfolgszweifeln des Publikums begleitet. Er steigt herab, lässt die Möbel vorsichtig zu Boden gleiten. Bleibt (aber) auf der Bühne stehen. Das Licht geht aus. Das Publikum jubelt.