Jüdische Kulturtage in Wuppertal „Zwischenfall in Vichy“: Von neuen und alten Opferrollen

Intensive Gastinszenierung von Arthur Millers Stück im Theater am Engelsgarten. Die Jüdischen Kulturtage halten weitere Programmpunkte in Wuppertal bereit.

Im Rahmen der Jüdischen Kulturtage war Arthur Millers „Zwischenfall in Vichy“ im Theater am Engelsgarten zu sehen.

Foto: Fischer, Andreas

Sind kultivierte Menschen imstande, Böses zu tun? Kann im falschen System jeder zum Opfer werden? Und wird jeder, der nicht selbst Opfer ist, automatisch zum Mittäter – und wenn er nur froh ist, dass es ihn nicht selbst getroffen hat? Diese und weitere hochaktuelle Fragen wurden am Sonntagabend im Theater am Engelsgarten aufgeworfen: Das in Köln ansässige Ensemble rimon productions gastierte im Rahmen der Jüdischen Kulturtage Rhein-Ruhr mit einer intensiven Inszenierung von Arthur Millers „Zwischenfall in Vichy“, das 1964 unter den Eindrücken des Auschwitz-Prozesses in Frankfurt entstand.

Die hölzerne Uhr an der schwarz verkleideten Wand läuft rückwärts. In diesem Zeit-losen Raum trifft eine Gruppe Fremder nach einer Razzia in einem Haftlokal in Vichy aufeinander – im unbesetzten Teil Frankreichs der frühen 1940er Jahre. In angespannter Atmosphäre diskutieren die Wartenden über ihr mögliches Schicksal und erfragen persönliche Details der anderen, jeder in der Hoffnung, dass nicht etwa das Jüdischsein hinter der eigenen Verhaftung steht. Doch wer ist hier überhaupt jüdisch und wer sieht nur jüdisch aus? Und wer muss wegen falscher Papiere um sein Leben fürchten? In einer nummerierten Schublade scheint jeder der Anwesenden seine Identität vor den anderen zu verbergen. Der hinten im nahezu leeren Bühnenraum aufgestellte militärische Aktenschrank, dem die Kästen entstammen, symbolisiert auf subtile Weise die Kategorien, in die das Gesellschaftssystem die Verhafteten – sie ihrer Menschlichkeit beraubend – einzusortieren sucht.

Gegensätzliche politische
Einstellungen

Im Lauf der Diskussion werden nicht nur gegensätzliche politische Einstellungen offenbar, sondern auch verschiedene Strategien, mit der ausweglosen Situation umzugehen: Eine junge Sozialistin (Marie Dinger) ist der Überzeugung, dass ihre klare politische Haltung sie vor einer Verurteilung retten wird, während ein eitler Schauspieler (Anton Tsirin) sich darauf verlässt, dass sein selbstbewusstes Auftreten ihn von der Opferrolle befreit. Eine nervöse Jüdin (Britta Shulamit Jakobi) beginnt nach Jahren der Zuweisung, selbst an ihre Sündhaftigkeit zu glauben, und auch ein sanftmütiger Adliger (Matthias Fuhrmeister), der im Grunde nichts zu befürchten hat, scheint sich gerade deswegen schuldig zu fühlen. Während ein alter Mann (Hanjo Butscheidt) sein Schicksal erschöpft hinnimmt, plant ein Psychiater (Hanno Dinger) – aufgebracht über die Passivität seiner Leidensgenossen – die Flucht. Überwacht wird die Szenerie von einem aggressiven Major (Carlos Garcia Piedra), der in seiner Position allerdings ebenso gefangen scheint wie die jüdischen Verhafteten.

Das Publikum
spürt die Gefahr

„Sie müssen doch ganz bestimmt die Gefahr hier drin spüren“, ereifert sich Hanno Dinger überzeugend als seine Flucht planender Familienvater. Ja, das Publikum spürt diese Gefahr und bleibt zum anschließenden Gespräch mit dem Ensemble zunächst etwas sprachlos zurück. Trotz eines schauspielerischen Leistungsgefälles gelingt den Darstellern unter der Regie von Britta Shulamit Jakobi ein atmosphärisch dichter Theaterabend. Obwohl das Geschehen durch die Gestaltung der Bühne und Kostüme in seiner Zeit belassen wird, verleihen ihm die starken Dialoge Millers, die nicht nur die Shoah im Speziellen aufgreifen, sondern die Furcht willkürlich Beschuldigter und Ausgegrenzter im Allgemeinen, eine bedrückende Aktualität. Die rückwärts laufende Uhr wird damit nicht nur zum Symbol der Unerträglichkeit des hilflosen Ausharrens, sondern zum Ausdruck der Sehnsucht nach einer besseren, menschlicheren Zeit.