Betzer: Die eine Seite wäre der Schäferhund, der aufpasst, das alles richtig gemacht wird. Auf der anderen Seite braucht es aber wie bei einem Esel auch die Karotte, die hingehalten wird. Letztendlich geht es um Entscheidungen.
Interview „In den Aufsichtsräten muss Kompetenz Vorrang haben“
Wuppertal · Herr Prof. Betzer, lässt sich Corporate Governance mit der Aufgabe eines Schäferhundes vergleichen, der eine Herde bewacht und der auch schon einmal beißen kann?
In Unternehmen?
Betzer: In Unternehmen, in Organisationen generell. Es geht bei Corporate Governance darum, dass Entscheidungen, die delegiert werden, überwacht werden. In der Stadt ist es so, dass die Bürger Entscheidungen an den Stadtrat delegieren. In Unternehmen sind es die Aktionäre, die Entscheidungen an den Vorstand beziehungsweise den Aufsichtsrat delegieren. Diese Entscheidungen müssen überwacht werden.
In der Regel sind Aktionäre zufrieden, wenn Aktienkurse stimmen. Wo liegt der Fehler, dass es doch Fälle gibt wie Wirecard?
Betzer: 1776 hat Adam Smith als Moralphilosoph und Begründer der Nationalökonomie gesagt, dass man nicht erwarten könne, dass Menschen mit dem Geld anderer Leute so sorgfältig umgehen, wie mit dem eigenen Geld. Man gibt die Entscheidungsgewalt an andere Leute weiter, die nicht die Eigentümer sind, nicht die direkten Stakeholder sind.
Stakeholder, können Sie den Begriff einmal erklären? Bin ich ein Stakeholder?
Betzer: Sie sind in Wuppertal definitiv ein Stakeholder. Sie haben einen Anspruch gegenüber der Stadt. Sie wollen, dass die Kindergärten und Schulen funktionieren. Sie haben einen Anspruch, dass mit ihren Steuergeldern Leistungen ordentlich erbracht werden. Bei der Stadt ist der Stakeholder der Bürger, bei Unternehmen wäre es der Aktionär, aber auch der Mitarbeiter und Lieferant. Menschen wollen in ihren Entscheidungen ihren eigenen Nutzen maximieren. Man nennt es ein opportunistisches Verhalten in der Wirtschaftswissenschaft. Dass sich Menschen doch im Interesse der Stakeholder verhalten, geschieht durch Überwachung. Das kann ein Aufsichtsrat sein, das kann der Stadtrat sein, oder eben, dass die richtigen Anreize für die Entscheidungsträger geschaffen werden.
Die Schwebebahn fährt nur noch an Wochenenden. Demnächst werden Netze am Döppersberg aufgehängt, um eine Mauer abzusichern. Die Kosten für ein Bauvorhaben der Abfallwirtschaftsgesellschaft steigen um 13 Millionen Euro. Wie lässt sich denn Corporate Governance auf die Stadt und städtische Unternehmen anwenden?
Betzer: Da muss man jeden Einzelfall betrachten. Der Städte- und Gemeindebund hat schon 2005 dafür gesorgt, dass es einen Public Corporate Governance Codex gibt. Es sind Leitlinien für Städte und Aufsichtsräte städtischer Unternehmen, aber auch für die Mitarbeiter in Verwaltungen.
Wie kann man solche Fälle verhindern?
Betzer: Die Forschung zeigt, dass die Transparenz durch einen Verhaltenskodex für Mitarbeiter dazu führt, dass solch ein schädigendes Verhalten für die Stakeholder eingegrenzt wird. Das ist der Schäferhund auf der einen Seite. Sowohl bei den Mitgliedern des Stadtrates als auch den Mitgliedern der Verwaltung muss der Gedanke vorherrschen, dass sie sich als Miteigentümer der städtischen Institutionen, der städtischen Kindergärten fühlen.
Bei Bauvorhaben gibt es von der Verwaltung oft den Verweis auf die Vergabeverordnung, auf geringe Spielräume und komplexe Vorschriften. Was kann man dem entgegnen?
Betzer: Das größte Problem ist die Vergabe von Großaufträgen, die sich an Leitsätzen orientieren: Gleichbehandlung, Wettbewerb und Transparenz. Der vierte Punkt ist die Wirtschaftlichkeit. Dabei darf es aber nicht immer heißen, das Billigste und Günstigste. Das Günstigste ist nicht immer das Beste. Verantwortungsvoll mit Steuern umzugehen, heißt zunächst einmal, dass man Qualität und Nachhaltiges schafft. Das kann auch mal teurer sein.
Gibt es da Spielraum für die Mitarbeiter?
Betzer: Zum Beispiel bei der Universität gilt, dass man nicht nur den günstigsten Preis nehmen soll. Die Preiskomponente ist am leichtesten zu kontrollieren. Der Verwaltungsmitarbeiter muss das Vertrauen spüren, dass er auch eine Entscheidung treffen kann, etwas Teureres zu machen, was aber dann geringere Folgekosten hat. Die Wartungskosten zum Beispiel.
Die städtischen Gesellschaften werden politisch über die Verwaltungs- und Aufsichtsräte kontrolliert. Bei der Schwebebahn war eines der erklärten Ziele ein Zwei-Minuten-Takt. Jetzt stellen wir fest, die Wuppertaler wünschen sich vor allem Verlässlichkeit. Hätte sich der Aufsichtsrat nicht fragen müssen: Haben wir die richtigen Ziele gesetzt?
Betzer: Den konkreten Fall kann ich nicht beurteilen, ich war in keiner Aufsichtsratssitzung dabei. Natürlich müssen die Aufsichtsräte, die so etwas betreuen, auch die Zeit haben, so eine komplexe Entscheidung zu durchdenken. Es ist nicht ohne Grund, dass es in der Privatwirtschaft professionelle Aufsichtsräte gibt. Die Frage ist, ob in städtischen Aufsichtsräten die Mitglieder neben ihren normalen Jobs die Zeit haben. Man müsste eher überlegen, dass die Kompetenz erweitert wird in diesem Bereich. Bei einem Bauprojekt sollte potenziell ein Bauingenieur als Experte in einem Aufsichtsrat gehört werden. Fehlende Kompetenz hat in Unternehmen oft zu falschen Entscheidungen geführt. Bei einer Bank war es in den 1980er und 1990er Jahren so, dass gar keine Finanzexperten im Aufsichtsrat waren.
Wenn man keine Kompetenz hat, könnte man sie sich aneignen. Nun sind aber Kommunalpolitiker in der Regel Ehrenamtler. Was muss man trotzdem erwarten können?
Betzer: Es muss eine Spezialisierung geben. Es muss jemand aus einer Partei verantwortlich für ein Projekt sein und sich weiterbilden. Man muss sich in der Rechtslage und auf dem Fachgebiet auskennen. Diesen Menschen müssen Weiterbildungsmöglichkeiten geboten werden.
Für die Parteien ist dann Pflicht, dass man die „Pöstchen“ nach Kompetenz besetzt?
Betzer: Kompetenz muss den Vorrang haben, sonst passieren Dinge, die sich kein Bürger wünscht. Es darf nicht nach langjähriger Parteizugehörigkeit gehen, das ist das schlechteste Auswahlkriterium. Es wäre wünschenswert, wenn der Experte auch einmal ein Externer ist.
Hat der Codex für die Verwaltung denn schon Früchte getragen?
Betzer: In der Privatwirtschaft hat die Einführung des Codex dazu geführt, dass Unternehmen transparenter wurden. Das hat sich positiv nicht nur auf die Aktionäre, sondern auch auf die Mitarbeiter und Lieferanten ausgewirkt. Das Gleiche erhoffe ich mir für die Verwaltung. Wuppertal hat 2019 mit einem Entwurf für einen Public Corporate Governance-Codex angefangen, der dieses Jahr überarbeitet wurde. Das ist der richtige Schritt, um für mehr Transparenz zu sorgen und die Entscheidungen für die Bürger nachvollziehbar zu machen.