Abkürzung durchs Gewitter

Ein Experte analysiert den Absturz: Die Piloten wichen im Juni dem Unwetter absichtlich nicht aus.

Paris. Seit über vier Monaten leiden die Hinterbliebenen der 228 Opfer des Todesfluges AF 447 Rio-Paris unter schlaflosen Nächten. Sie wollen endlich Gewissheit darüber haben: Was spielte sich am Pfingstmontag in den letzten Minuten an Bord des Airbus 330 ab? Wie qualvoll war der Tod, den ihre Angehörigen über dem Atlantik erlitten haben?

Der deutsche Luftverkehrsexperte Elmar Giemulla hat nun ein Katastrophen-Szenario entwickelt, das für Air France wenig schmeichelhaft ist: In der besonders kritischen Phase hat höchstwahrscheinlich nicht der erfahrene Kapitän am Steuerknüppel gesessen, sondern der Ersatzpilot mit der geringsten Flugerfahrung.

"Außerdem war es ein verhängnisvoller Fehler, durch das verheerende Gewitter geflogen zu sein", fügt der Professor für Luftverkehrsrecht an der TU Berlin hinzu. Giemulla, der die Hinterbliebenen der 28 deutschen Opfer berät, ist ein weltweit anerkannter Fachmann. Er untersuchte bereits die Katastrophen von Lockerbie, Ramstein und Überlingen. Außerdem beriet er die Opfer der Concorde-Katastrophe und des Birgenair-Absturzes.

Das Air-France-Unglück vom Pfingstmontag mit 228 Todesopfern ist die größte Katastrophe der französischen Luftfahrt. Warum es dazu kam, könnten die Daten auf dem Flugschreiber verraten. Doch die sogenannte "Black Box" ruht praktisch unauffindbar in 4.000 Metern Tiefe auf dem zerklüfteten Grund des Ozeans. "Wir verfügen nun über dringende Indizien, wonach der Kapitän nicht am Steuer saß", sagt Giemulla.

Fatale Folgen habe ferner die Entscheidung der Air-France-Crew gehabt, den Airbus 330 durch die verheerende Gewitterfront mit schwersten Turbulenzen zu fliegen. Um Geld zu sparen? Giemulla zufolge machen Airlines das. Hätte die Crew einen Umweg von nur zehn Minuten Verspätung gewählt, hätte die Maschine Paris ohne Tankstopp nicht mehr erreichen können. Wollten die Piloten eine teure Zwischenlandung vermeiden, vielleicht auch um keinen Ärger mit den Passagieren zu haben?

Giemulla beruft sich weitgehend auf die Unfallanalyse seines Kollegen Gerhard Hüttig. Dieser ist TU-Professor für Flugführung und Luftverkehr und saß als Airbus-Pilot 13 Jahre in den Cockpits von A 320 und A 330. "Ein Flugzeugabsturz hat nie eine Ursache allein", sagt Hüttig, der von einer "Ereigniskette" spricht. Einer Kette, in der die Piloten allerdings immer am Ende stünden.

Erkenntnisse gibt es auch zu den Pitots, die am Rumpf des A330 angebracht waren und als Geschwindigkeitsmesser dienen. Fallen sie aus, weil sie verdreckt oder vereist sind, droht eine Maschine abzustürzen. Für Hüttig steht fest, dass bei der Todesmaschine sogar alle drei Pitots ausgefallen waren. "Hätte die Crew das Gewitter umflogen, wären die Pitots mit höchster Wahrscheinlichkeit nicht vereist."

Erste Warnungen vor den anfälligen Pitots hatte es schon 1998 aus Deutschland gegeben, danach häuften sich die Hinweise. AirFrance habe nicht reagiert, kritisiert Hüttig.

Dass sich der Luftverkehrsexperte überhaupt in die Aufklärung des Unglücks einschalten kann, verdankt er einem glücklichen Zufall. Denn um ein Haar hätte er selbst zu den Opfern des Todesfluges gehört. Hüttig war ebenfalls auf AF 447 Rio-Paris gebucht. Doch dann musste er seine Rückkehr kurzfristig verschieben.