„Als ob eine alte Wunde aufreißt“
Gert Schramm kam als 15-Jähriger wegen seiner Hautfarbe nach Buchenwald. Er überlebte und schrieb ein Buch.
Eberswalde/ Weimar. Als Gert Schramm 15 Jahre alt ist, lebt er in einer Welt voller Elend und Tod. Er ist nur noch eine Nummer. Obwohl der Junge 1944/ 45 im Konzentrationslager Buchenwald kein Individuum mehr sein darf, ist er doch zugleich einer der auffälligsten Häftlinge. Für die Nationalsozialisten ist er ein „Negermischling 1. Grades“, seine Hautfarbe „kaffeebraun“ — so steht es in seiner Häftlingspersonalkarte.
Schramm weiß, dass er nur überleben kann, wenn er so wenig wie möglich ins Blickfeld der Nazi-Schergen gerät. „Ich bin in eine leere Mülltonne gesprungen, damit mich der SS-Mann nicht sieht“, erinnert sich der heute 82-Jährige.
Unter den Nazis hält er die knapp neun Monate im KZ bis zur Befreiung der Häftlinge am 11. April 1945 durch. Nach Angaben der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora war Schramm der jüngste unter den dunkelhäutigen Häftlingen in dem Lager bei Weimar.
Heute wohnt der gebürtige Erfurter in Eberswalde (Barnim) und hat ein Buch geschrieben — über seinen Überlebenskampf im KZ, den Neubeginn als Bergmann im Westen, die abenteuerliche Rückkehr in die DDR, den rasanten Aufstieg im Sozialismus ohne Parteibuch und sein Engagement als Zeitzeuge, weil er sich dem Schwur der Häftlinge von Buchenwald verpflichtet fühlt.
Dieses Leben beginnt 1928. Schramms Vater, dessen Spur sich Jahre später in Auschwitz verliert, kam als Arbeiter aus Amerika nach Erfurt. Schramm beschreibt eine glückliche Kindheit in Witterda bei seinen Großeltern. 1943 aber wird er in Langensalza verhaftet. Die Mutter weiß lange Zeit nicht, wo ihr Kind ist. Der Sohn sitzt hilflos in einer Gefängniszelle: Er kann nicht begreifen, dass es um seine Hautfarbe geht, an der sich doch in seinem Dorf fast niemand gestört hat, wie er später schreiben wird.
Im Alter von 15 Jahren wird er am 20. Juli 1944 in einem Viehwaggon nach Buchenwald gekarrt — ohne zu ahnen, was ein KZ ist. Schramm verbarrikadiert sein Inneres mit einem Schutzpanzer und überlebt Hunger, Angst, einen Luftangriff und eine gefährliche Verletzung. „Die Kommunisten haben mir das Leben gerettet“, sagt Schramm heute. Sie hätten zum Beispiel arrangiert, dass er der mörderischen Arbeit im Steinbruch entkam.
Nach der Befreiung leisten die KZ-Überlebenden im Gedenken an die mehr als 50.000 Toten den Schwur, gegen Faschismus und für eine friedliche Welt einzutreten. „Das war einer der feierlichsten und bewegendsten Augenblicke meines Lebens.“
Nach Angaben von Philipp Neumann von der thüringischen Gedenkstätten-Stiftung gab es nur sechs dunkelhäutige Häftlinge im damaligen KZ Buchenwald. Zwei von ihnen seien aus Deutschland, vier mit Transporten aus Frankreich gekommen, sagt der Leiter der Abteilung Presse- und Öffentlichkeitsarbeit.
Für Schramm, der einer der Deutschen war, folgen nach seiner Haft stürmische Jahre: In den Nachkriegswirren wird er als Dolmetscher für die sowjetische Militäradministration angeheuert. Später geht er in die Bergwerke in Frankreich und im Ruhrgebiet, wo er mit seiner Frau eine Familie gründet.