Amoklauf im „Märchenland“
Zwei Kinder und eine Betreuerin werden im Kinderhort erstochen. Elf weitere Kleinkinder erleiden Verletzungen.
Dendermonde. Der flämische Ort, eine gute Autostunde nordwestlich von Brüssel, steht kollektiv unter Schock. "Ich kann immer noch nicht begreifen, dass so etwas bei uns passieren kann", sagt Annie Roelandt, der auch Stunden nach der Bluttat immer wieder die Tränen in die Augen schießen.
Sie steht kopfschüttelnd vor dem blau-weißen Flatterband, mit dem die Polizei den Tatort in der Bakkerstraat weiträumig abgesperrt hat. Der Tatort ist der Kinderhort mit dem schönen Namen "Fabeltjeland" ("Märchenland"). Doch an diesem Freitag wird das "Fabeltjeland" zum Horrorhaus.
Der Täter, angeblich 28 Jahre alt, ist offenbar ein Psychopath, der unter dem Einfluss von Drogen und Medikamenten steht und die Tat von langer Hand geplant hat. An diesem Morgen hatte er sein Gesicht weiß geschminkt, die Augen sind schwarz und die Haare rot gefärbt.
Zeugen haben ihn unmittelbar vor der Tat in dieser bizarren Aufmachung im Bahnhof des Stadtteils Sint-Gillis gesehen. Besonders martialisch lässt ihn seine kugelsichere Weste erscheinen, in seinen Rucksack hat er die Messer für die Bluttat gepackt.
"Er betrat entschlossenen Schrittes den Hort und ging sofort gezielt auf die kleinen Kinder los", berichtet später der Polizist Dominique Verhofstadt, "in 17 Dienstjahren habe ich schon viel Schreckliches erlebt, aber das hier übersteigt alles." 20 kleine Kinder, alle jünger als drei Jahre, befinden sich zu diesem Zeitpunkt im "Fabeltjeland" - und natürlich die Betreuerinnen.
Doch ehe diese verstehen, was der rätselhafte Fremde hier sucht, sticht dieser mit seinen Messern wie im Rausch um sich. Binnen Minuten richtet er ein fürchterliches Blutbad an. Für zwei Kinder wird jede Hilfe zu spät kommen, auch eine Betreuerin kommt ums Leben.
Elf Kinder erleiden schlimme Schnittwunden, auch die anderen Betreuerinnen bluten. Eines der Kinder ist so schwer verwundet, dass es mit dem Hubschrauber in die Uniklinik von Gent geflogen wird. Nach der Tat entkommt der Amokläufer mit einem Fahrrad.
Die Nachricht vom Blutbad verbreitet sich im Ort und in ganz Belgien. Panik macht sich breit. In Windeseile lässt die Polizei alle Schulen und Kindergärten verriegeln. Nach eineinhalb Stunden bekommt sie den mutmaßlichen Täter zu fassen.
"Wo ist mein Kind?", fragen derweil Eltern, die vom Kinderhort in ein rasch eingerichtetes Krisenzentrum in der Stadtmitte gebracht werden. Nach und nach erhalten sie Gewissheit über das Schicksal ihrer Kinder. "
Die Krankenhäuser haben Digitalfotos von den verletzten Kinder ins Krisenzentrum geschickt", sagt Hilde Dierickx, eine Stadtverordnete von Sint-Gillis.
Auf die Frage, die an diesem Freitag überall gestellt wird, nämlich ob und wie Kinderhorte besser geschützt werden können, weiß auch die liberale Kommunalpolitikerin keine Antwort. "Man fühlt sich ohnmächtig, im Grunde kann es überall passieren."
Weil Polizei und Staatsanwalt die Identität des Tatverdächtigen nicht preisgeben, kursieren Gerüchte. Er soll arbeitslos sein, seit längerem psychiatrisch behandelt werden und für die Polizei kein Unbekannter sein. Angeblich kommt er aus einem Dorf in der Nähe. Weil sich der Amokläufer bei der Festnahme verletzt hat, wird auch er in ein Krankenhaus gebracht. Sein Tatmotiv bleibt rätselhaft.