Blindwalk-Touristenführungen: Augen zu und durch Paris
Wer ohne etwas zu sehen durch die Stadt geführt wird, erlebt die Metropole an der Seine ganz neu. Unser Korrespondent hat es ausprobiert.
Paris. Es ist stockfinster. Mitten am Tag. Die pechschwarze Stoffbinde, die Martial Chazallon mir um die Augen legt, fühlt sich angenehm weich an. Der Choreograph, Mitinitiator des Projekts „Paris — die Augen verschlossen“, gibt mir zwei wichtige Verhaltensregeln mit auf den Weg: Die erste: „Bitte, keine Fotos.“ Regel zwei: Die Route bleibt geheim. Dann stellt er mir meinen Führer vor: Serge.
„Bonjour“, sagt er mit rauchiger Stimme, und reicht mir seinen Arm. Serge ist 51, städtischer Mitarbeiter, ehrenamtlich im Projekt tätig, in Portugal geboren und in Paris aufgewachsen. Die nächsten zweieinhalb Stunden werde ich mich an seine Ellbogen heften. Wenn’s brenzlig wird, soll ich auch noch die andere Hand auf seine Schulter legen. Schon nach den ersten zaghaften Schritten spüre ich: Serge und ich sind ein ungleiches Paar. Er, der Sehende, ich der Blinde. Ohne ihn bin ich verloren.
Unser „Erlebnisraum“ beginnt auf der Place Hannah Arendt nahe dem „Parc des Buttes Chaumont“. „Vorsichtig, Stufe runter“, sagt Serge. Meine rechte Schuhsohle tastet sich bedächtig, die Kante kratzend, vor. Und findet endlich Halt. Wahnsinn! Jede Stufe eine Erleichterung. Serge zählt . . . bei Neun sind wir unten. Langsam läuft’s. Vögel sehen ist eine Sache, sie hören eine andere. Ihr Gezwitscher verdichtet sich zu einem Konzert.
Auf dem Trottoir schlägt mir der Duftmix der Großstadt entgegen: hier Leckeres aus Bäckereien, dort Autoabgase und eine süße Parfümwolke. „Die Frau war hübsch“, sagt Serge. Lastwagen, hupende Autos und fluchende Fußgänger liefern die Geräuschkulisse. In einer Altbauwohnung begrüßt mich Isabelle, eine Künstlerin. Sie sagt: „Ich reise gern“ und reicht mir fremdartige Musikinstrumente — Mitbringsel von unterwegs. Ich fühle und beginne zu spielen. Der „Tingsha“, einer tibetanischen Zimbel, entlocke ich einen hellen Ton.
Die nächste Etappe führt uns in einen Raum großer Stille. Der Geruch aus Kerzen und Weihrauch verrät: eine Kirche. Beim Rausgehen passiert ein Missgeschick. Meine suchende Hand landet im Weihwasserbecken. Hoffentlich hat’s der liebe Herrgott nicht gesehen! Weiter geht’s über Brücken und Bordsteine.
Dann setzt mich Serge neben Christelle. Ich reiche ihr meine Hand zum Gruß, doch Christelle findet sie nicht. „Ich bin blind“, sagt sie und macht mich für einen Moment sprachlos. „Schon immer“, frage ich unsicher. „Seit ich zwei bin“, antwortet die 25-Jährige. Sie nimmt mich an die Hand und ist jetzt meine Führerin.
Ich höre, wie ihr Blindenstock den Weg schleift, und fühle mich wunderbar sicher an ihrer Seite. In einem kleinen Park lässt Christelle mich Bäume fühlen: furchigen Rinden, Tannenzweige und Blätter. Mir dämmert: In einer Stunde werden sie mir die Binde abnehmen, aber sie wird in ihrer finsteren Welt verbleiben und niemals einen Regenbogen sehen.
In der letzten Station muss ich Schuhe und Strümpfe ausziehen. Dann führt Serge mich auf die Tanzfläche. So wie einst beim Blinde-Kuh-Spiel geht’s mal schnell, mal langsam, mal links, mal rechts herum — bis ich keuchend und ausgelassen anfange zu lachen. Vor Glück.