Der Herzog und die Wildpferde
Dülmen (dpa) - Mit wehendem weißen Haarschopf steht Rudolf Herzog von Croÿ inmitten von mehr als 400 Wildpferden, und alle sind seine. Wie fühlt sich das an? Der sonst recht mitteilsame Mann sucht nach Worten.
„Es gibt keinen besonderen Besitzerstolz“, murmelt er, „es ist eine Verpflichtung.“
Hier im Merfelder Bruch in Westfalen hört man nur den Wind, die Vogelstimmen und das Ausreißen der Grashalme durch die unersättlichen Pferdemäuler. Die Herde verteilt sich über eine große Wiese am Waldrand. Wild im Sinne von ungestüm wirken diese Ponys ganz und gar nicht. Im Gegenteil, es ist ein Bild von vollkommener Ruhe. Das Fell der Pferde deckt alle denkbaren Brauntöne ab - von Sandfarben über Beige und Ocker bis Dunkelbraun. Über den Rücken zieht sich eine wie mit dem Pinsel gemalte Linie, der sogenannte Aalstrich.
Jetzt im April haben viele Stuten Nachwuchs. „Dieses Wiehern ist ein Rufen zwischen Fohlen und Stuten“, erklärt von Croÿ. „Da sagt die Mama: „Wo bist du?“ Im Winter hört man das nicht.“ Ein Fohlen mit flauschigem Fell versucht, sich hinzulegen, doch es ist noch so wackelig auf den Beinen, dass es prompt vornüber auf die Nase fällt. Es sei wohl erst wenige Stunden alt, meint von Croÿ. Die Plazenta liegt noch im Gras. Nächste Nacht wird sie der Fuchs holen.
Ein anderes Fohlen stupst seine Mutter, als wolle es sie zum Spielen auffordern. Ein drittes knabbert seiner Mutter an den Ohren. Das diene dem Sozialkontakt, erklärt von Croÿ. „Wenn das Fohlen geboren wird, wollen die Stuten niemand anderen in der Nähe haben, höchstens Familienmitglieder, damit das Fohlen direkt ihren Geruch aufnimmt.“ Wenn von Croÿ das Naturgeschehen kommentiert, wirkt der gediegene Endfünfziger mit dem weißen Schnurrbart ein wenig wie Marlin Perkins, der Moderator der US-Serie „Im Reich der wilden Tiere“ aus den 60er und 70er Jahren.
Im gesamten Umland wird von Croÿ nur „der Herzog“ genannt. Diesem Bild wird er durchaus gerecht. Mit einer gewissen landadeligen Noblesse stapft er kerzengerade durch die Weide und lässt seinen Blick über das weite westfälische Land schweifen.
1316 seien die Pferde erstmals erwähnt worden, erzählt er. Dülmener Brücher nannte man sie früher. Mitte des 19. Jahrhunderts schuf dann sein Ururur...großvater ein eingezäuntes Reservat, das den damals nur noch etwa 40 Tieren das Überleben sicherte. Andere Herden, die damals noch durch die nordwestdeutsche Heide- und Moorlandschaft streiften, starben in den Jahrzehnten der Industrialisierung allesamt aus.
Von Croÿ lebt ganz in der Nähe auf einem Anwesen aus dem 15. Jahrhundert, das von oben bis unten mit Ölgemälden und Antiquitäten vollgestopft ist - alles Erbstücke seiner Familie, die es nach der Französischen Revolution ins Westfälische verschlug. Aber diese Historie scheint ihm lange nicht so viel zu bedeuten wie die Pferde.
„Eines ist mir wichtig“, sagt er. „Wir sind keine Pferdezüchter, wir versuchen, eine Art zu erhalten. Meine Pferde sollen keine Schleifen beim Turnier gewinnen, sie sollen mit dem Leben zurechtkommen.“ Die Wildpferde aus dem Merfelder Bruch gehen ohne Hufschmied und Tierarzt durchs Leben, sie haben keinen Stall und keinen Namen. Nur Heu erhalten sie im Winter vom Menschen. Und manchmal, wenn sich ein altes Tier sehr quält, bekommt es den Gnadenschuss.
Obwohl die Dülmener Wildpferde nur selten mit Menschen in Kontakt kommen, sind sie nicht scheu. Man kann bis auf wenige Schritte an sie herangehen, und sie bleiben immer noch entspannt im Gras liegen. „Die kennen keine Menschen, von denen Böses ausgeht“, sagt ihr Besitzer.
Einmal im Jahr allerdings, immer am letzten Samstag im Mai, werden die Pferde in einer Arena vor 15 000 Zuschauern zusammengetrieben. Dann erzittert die Erde unter ihren Hufen, und der berühmte Wildpferdefang von Dülmen beginnt. Männer von umliegenden Bauernhöfen betätigen sich als Fänger: Rodeo in Westfalen - nur ohne Lasso. Mit bloßen Händen packen die Fänger den Hals der jungen Hengste und versuchen, ihnen ein Halfter anzulegen, was nie ohne blaue Flecken abgeht. Anschließend werden die etwa 30 Tiere versteigert. Wenn die jungen Hengste in der Herde bleiben würden, käme es zu Rangkämpfen. Die unterlegenen Hengste hätten keine Rückzugsmöglichkeit und würden von ihren Rivalen gegen die Zäune getrieben.
Tierschützer kritisieren das Spektakel: Die Pferde würden dabei zur Belustigung der Zuschauer großem Stress ausgesetzt, lautet der Vorwurf. „Diese johlende Menge, die nervt uns“, sagt Reinhold Kassen vom Verein Animal Peace Tierhof in Duisburg. Gleichzeitig betont er, dass der Herzog „ein ehrenwerter Mann“ sei. Und als er sich den Fang einmal selbst angesehen hat, konnte auch er sich der Faszination nicht entziehen: „Wenn die an einem vorbeireiten und der ganze Boden vibriert - das ist schon eine tolle Sache.“
Friederike Rövekamp, die Oberförsterin im Merfelder Bruch, ist zwar Angestellte des Herzogs, hat aber ihren eigenen Kopf. Sie sagt über den Wildpferdefang: „Das ist der beschissenste Tag im Leben der Herde. Aber es ist wenigstens nur einer.“ Nach ihrer Überzeugung gibt es keine bessere Möglichkeit, die Hengste aus der Herde auszusondern.
Die Fänger werden mittlerweile alle von einer Expertin der Tierärztlichen Hochschule Hannover geschult. Früher sollten sie zeigen, was für harte Burschen sie waren. „Jetzt vermitteln wir: Ein guter Pferdefänger ist gerade besonders sensibel und hat Köpfchen“, sagt Rövekamp. Wenn möglich, soll er das Pferd beim Fangen gar nicht mehr zu Fall bringen, sondern ihm im Stehen das Halfter anlegen. Denn ein am Boden liegendes Pferd steht Todesängste aus: Auf der Flucht vor Wolf oder Bär bedeutete ein Sturz das unwiderrufliche Ende.
Es gibt beim Wildpferdefang mittlerweile auch keine Brandzeichen mehr, stattdessen wird den Tieren ein Chip eingesetzt. Das Halfter ist aus weicher Baumwolle. Und es muss nicht mehr die ganze Herde in die Arena einlaufen: Familienverbände, die keinen Jährlingshengst haben, bleiben draußen.
Gleichwohl gab es 2013 erstmals in 107 Jahren einen ernsthaften Zwischenfall: Eine kleine Stute wurde von einem älteren Tier so unglücklich mit dem Huf am Kopf getroffen, dass sie starb. So etwas könne leider immer passieren, sagt Rövekamp. „Das ist natürlich auch ein Stück Natur - es geht nicht immer gut. Aber das ist heute schwer zu vermitteln: Tote Fohlen darf es nicht geben.“
Der Beliebtheit des Wildpferdefangs hat das Unglück nicht geschadet. Die Karten waren auch diesmal schon Monate im Voraus nach gerade einmal 20 Minuten ausverkauft. Auf die damit verbundenen Einnahmen könne er nicht verzichten, sagt von Croÿ. Er kenne da einen passenden Spruch: „Mit Pferden kann man ein kleines Vermögen machen. Man muss nur vorher ein großes gehabt haben.“
Noch immer steht er auf der Weide und schaut seinen Pferden zu. Ein Fohlen vollführt jetzt tolle Bocksprünge. „Das hat so richtig Spaß an seinem jungen Leben.“ Manchmal, an lauen Mai-Abenden, würden sechs oder sieben auf einmal Kapriolen schlagen, besser als in der Spanischen Hofreitschule. Der Pferdeherzog wendet sich zum Gehen. Am Horizont ragt die Arena auf. Für die Jährlingshengste brechen die letzten Wochen in Freiheit an.