Der Machtkampf im Kinderzimmer

Erziehung: Der Kinderpsychiater Winterhoff malt ein düsteres Bild von unserer Gesellschaft: Ganze Generationen sind ausbildungsunfähig.

Bonn. Eltern in Deutschland versagen und machen aus ihrem Nachwuchs kleine Tyrannen - mit verheerenden Folgen für die Gesellschaft. Das behauptet der Bonner Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Michael Winterhoff. "Ganze Generationen sind ausbildungs- und damit arbeitsunfähig", prophezeit der Experte.

Dabei beschränkten sich die Defizite nicht - wie vielfach angenommen - auf Familien aus der Unterschicht. "Vor allem die Mittel- und Oberschicht versagt beim Machtkampf im Kinderzimmer."

Während der Berufsverband der Kinderpsychiater davon ausgeht, dass bereits 20 Prozent aller Kinder und Jugendlichen unter seelischen Störungen leiden, geht Winterhoff noch einen Schritt weiter: Er stellt die These auf, dass 70 Prozent der Minderjährigen in der Bundesrepublik betroffen sind. "Grundschüler sind entwicklungspsychologisch gesehen sogar auf dem Stand von unter Dreijährigen", sagt der 53-Jährige.

Schuld an der Entwicklung sind Winterhoff zufolge jedoch nicht Familienstrukturen oder Erziehungsfehler. Verantwortlich sei vielmehr eine fehlerhafte Entwicklung der Psyche des Kindes - verursacht durch falsches elterliches Verhalten.

"Wir sehen unsere Kinder zu oft als Partner und kleine Erwachsene. Wir zeigen ihnen keine Grenzen auf und verhindern so, dass sie sich gesund entwickeln. Sie lernen nicht, mit Frustrationen umzugehen", sagt der Psychologe. Grenzen zu setzen, bedeute zum Beispiel, sich beim Kind unbeliebt zu machen. "Eltern, Großeltern, auch Erzieher und Lehrer haben aber Angst, vom Kind nicht geliebt zu werden."

Hinter einem partnerschaftlichen Umgang stehe die Idee der Eltern, ihren Kindern etwas begreiflich zu machen. "Es bringt aber nichts, wenn sie einem Fünfjährigen erklären, warum er den Tisch abräumen soll", sagt Winterhoff.

Die Psyche eines Kindes müsse vielmehr durch permanentes Wiederholen trainiert werden. "Es ist wie beim Tennisspielen. Dazu braucht man einen Coach, der klar sagt, was richtig und was falsch ist. Aber keinen Partner, der verstehen kann, warum man den Ball falsch schlägt."

Die Zunahme seelischer Störungen bei Kindern, die sich in körperlichen Symptomen wie Schmerzen, Essstörungen oder Angst äußern, meldet auch die Universitätsklinik Münster.

Dies hänge unter anderem damit zusammen, dass der Nachwuchs heutzutage "ungünstigen Einflüssen" wie Computern ausgesetzt sei, sagt der zuständige Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin, Erik Harms. Grundlegende, für das seelische und körperliche Gleichgewicht wichtige Fähigkeiten wie Sozialverhalten oder zwischenmenschliche Kommunikation gingen dafür zunehmend verloren.