Die Allgegenwart des Todes
Die meisten Verstorbenen werden in Massengräbern beerdigt.
Port-au-Prince. Das makabre Schauspiel scheint gut organisiert zu sein: Alle paar Minuten kommt ein Lastwagen angefahren, lädt eine, zwei oder noch mehr Leichen ab und gibt sofort wieder Gas. Helfer werfen die leblosen Körper auf die Schnelle in ein Massengrab, das sie ausgehoben haben, um die zahllosen, langsam verwesenden Erdbebenopfer Haitis möglichst bald von der Straße wegzubekommen.
"Wir haben jeden Respekt vor den Toten verloren", sagt ein alter Mann, der seine Tränen kaum zurückhalten kann, im Vorbeigehen. Augenzeugen verlieren bei dem furchtbaren Anblick die Fassung - und geraten außer sich, wenn sie in dem Gewirr von Leichen einen Angehörigen erspähen. "Das ist mein Vater, mein geliebter Vater", schreit eine junge Frau, bevor sie das Bewusstsein verliert.
Die 40-jährige Florence berichtet leise von ihrer toten Schwester, die sie drei Tage lang zu Hause im Arm gehalten hat. "Wir haben es vorgezogen, sie hierher zu bringen. Wir haben die Hoffnung aufgegeben, sie würdevoll in einem Sarg oder mit dem Segen eines Priesters beerdigen zu können."
In den Straßen von Port-au-Prince ist der Tod allgegenwärtig. Haitis Ministerpräsident Jean-Max Bellerive hat die Zahl der geborgenen Todesopfer am Samstag auf 25.000 beziffert. Auf die einheimischen Totengräber, die von ausländischen Helfern unterstützt werden, wartet eine schier unermessliche Arbeit. Seit Tagen türmen sich in der Hitze die Leichen am Straßenrand oder auf den Bürgersteigen.
Aus dem Ausland eingetroffene Bagger transportieren in ihren Schaufeln abwechselnd Leichen und Schutt. Vielfach werden die Toten ohne Identifizierung ins nächste Massengrab geschafft. Geduldig verfolgen die Überlebenden die Arbeit der Maschinen und hoffen, dass inmitten der Ruinen doch noch ein Angehöriger lebend gefunden wird.
"Wir wissen nicht, was wir mit unseren Toten machen sollen", sagt Student Joseph Tihaly, der sich freiwillig gemeldet hat, um im Krankenhaus bei der Entgegennahme und Herausgabe von Leichen zu helfen. Die meisten Leichname würden von ihren Familien abgeholt, berichtet er.
Aber nach vielen Toten werde vermutlich nie mehr jemand fragen. Die Leichenhalle werde zum Seuchenherd. Tihaly schätzt, dass binnen 24 Stunden 5.000 Leichen in den Massengräbern von Port-au-Prince endeten.
In einer Ecke der Leichenhalle zimmert ein Mann notdürftig einen Sarg zusammen, in dem er seinen Bruder beerdigen will. "Ich will ihn in unser Dorf bringen. Dort will ich ihn bestatten."