Die Couture holt zum Befreiungsschlag aus
Paris (dpa) - Es geht voran mit der Haute Couture. Statt abgehobener Modekunst mit Museumsreife zeigen Dior und Co. bei den Schauen in Paris kunstvoll Modernes für jeden Tag.
Wohin geht die Couture? Klarer als sonst beantworten die Designer Pariser Haute Couture-Schauen die Frage nach der Zukunft der Hohen Schneiderkunst - diesem immer wieder totgesagten Gewerbe, wo für eine überschaubare Zahl von Kundinnen noch von Hand gestickt, genäht und auf Maß geschneidert wird. Allen voran betätigte sich Dior als Wegweiser. Zum Leben echter Frauen hin bewegte sich die Schau. Statt Haute Couture als modischem Kostümfundus gab es Schneiderkunst zum Anfassen.
„Ich wollte die Couture befreien“, sagte Dior-Designer Raf Simons nach der Schau seiner Kollektion für Herbst/Winter 2013/14. Seit dem Siegeszug des Prêt-à-Porter (der heute üblichen „Mode von der Stange“) habe die Haute Couture ein Problem. Für Simons bewegt sie sich zu weit weg von den Frauen. Der Antwerpener ließ sich von den Kulturen verschiedener Kontinente inspirieren - dachte gleichermaßen an Amerika, Europa, Afrika und Asien und schneiderte für alle einen zeitgemäßen und dennoch raffinierten Look.
Japanische Falttechnik fand sich auf einem Rock aus besticktem Tüll in Rosé und Creme wieder. Dazu kombinierte er einen blauen „Obi“-Gürtel und eine von einem Kimono inspirierte Jacke. Leuchtend blauer Sportswear zur strahlend weißen Bluse im US-Ostküstenstil wirkte genauso modern wie ein lockeres Wickelkleid in den kraftvollen Rot- und Blautönen afrikanischer Massai. Die Kollektion verlor sich an einigen Stellen fast in ihrer Vielfalt. Simons ist jedoch bei allem Respekt vor der Tradition zweifellos ein Befreiungsschlag vom überholten Erbe gelungen, an dem die Couture schwer trägt.
Ab- und Aufbruch schien über der Schau von Chanel zu stehen. Im Pariser Grand Palais war ein alter Theatersaal „in Trümmern“ - mit angeschlagenen Wänden und Steinbrocken zwischen den Holzstühlen - errichtet worden. Hinter dem Vorhang erschien das Bild einer modernen Skyline. Mit der Zusammensetzung von Strukturen spielte die Kollektion, die glasklar und linear geschnitten war. Der Fokus lag auf einer trapezartig geraden Schulterlinie und mit breitem Gürtel betonter Taille. Es gab aus zwei Stoffbahnen zusammengesetzte schmale lange Kleider - vorne schwarz und hinten mit glitzernden Silberpailletten bestickt, Abendroben, die an nass schimmernde Regenmäntel erinnerten oder atemberaubend schönen Tweed in Creme, Blau- oder Grüntönen und mit einer funkelnden reliefartigen Oberfläche. Karl Lagerfeld kombinierte zu alldem handschuhweiche Stiefel, deren überlanger Schaft unter den Rocksäumen verschwand.
Iris van Herpen bewies in ihrer Schau, dass Kunst und Tragbarkeit sich nicht ausschließen. Die Niederländerin experimentiert gerne mit Formen und Phänomenen der Natur. Auch wenn die klobigen, an verschlungene Meeresalgen erinnernden Stiefel nicht gerade einen sicheren Gang verhießen, gab sich ihre Mode weniger alltagsfern als sonst. Ein Entwurf wirkte wie aus silbrigem Schilf gefertigt, auf einem anderen schienen sich versteinerte Muscheln ausgebreitet zu haben, ein dritter glänzte dank einer gallertartigen Schicht wie eine phosphoreszierende Qualle. Die Kleider waren auf Figur geschnitten und erschienen nicht als „Fremdkörper“. Wie das auf 3D-Druck spezialisierte Unternehmen „Materialise“ mitteilte, arbeitete van Herpen dabei auch mit deren zukunftsweisender Technologie.
Der Franzose Christophe Josse hingegen blickte noch einmal zurück. Seine Entwürfe in soften Pastellen erinnerten an das zaristische Russland, waren dabei aber so weich, fließend und zart gefertigt, dass von Schwere der Geschichte hier nichts zu spüren war.