Drei Geschwister in Dorfteich ertrunken
Neukirchen (dpa) - Der Schock sitzt tief. Einige Angehörige und Dorfbewohner sind zur Unglücksstelle gekommen. Sie starren in stiller Trauer auf den kleinen Teich im nordhessischen Neukirchen.
Die Katastrophe am Samstagabend können die Menschen im kleinen Ortsteil Seigertshausen auch am Tag danach kaum fassen. Drei Geschwister - fünf, acht und neun Jahre alt - sind in einem frei zugänglichen Löschteich der Feuerwehr ertrunken. Der elfjährige Bruder hat den Jüngsten leblos im Wasser treiben sehen.
Bis zum Mittag haben mitfühlende Menschen vor einem Metallsteg am Rande des Teiches drei weiße Kerzen, Blumen und Kuscheltiere abgelegt. An einem Stoffzebra ist ein Zettel angebracht. Darauf steht unter anderem: „Warum?“
Eine klare Antwort auf die Frage kann die Polizei auch heute nicht nennen. Die Beamten gehen von einem Unfall aus. Fremdverschulden schließen sie aus. Doch um weitere Anhaltspunkte zu bekommen, sollen die Leichen der Kinder am Montag obduziert werden.
Einen Zaun gibt es an dem etwa 40 Meter breiten, idyllisch gelegenen Löschteich nicht. Das Ufer ist mit Steinen befestigt, steil und nach dem vielen Regen der vergangenen Wochen rutschig. Aber Schilder warnen: „Teichanlage. Betreten auf eigene Gefahr. Eltern haften für ihre Kinder.“ Wo sich die Eltern der Kinder zum Zeitpunkt des Unglücks befanden und ob sie womöglich ihre Aufsichtspflicht verletzt haben, konnte ein Polizeisprecher nicht sagen.
Jamal B. steht am Nachmittag an dem Teich und spricht mit Reportern. Er sei ein Verwandter und in diesen schweren Stunden aus Berlin angereist, um Trost zu spenden. Er hält es für „viel zu gefährlich“, dass der Teich nicht abgesichert ist. Schilder reichten nicht aus, sagt er und blickt auf den trüben See. Die Trauer sei für die Familie nicht in Worte zu fassen. „Es ist sehr schwer. Ein Kind zu verlieren, ist schlimm, aber gleich drei - das ist unglaublich.“
Nach seiner Schilderung nach Rücksprache mit den Eltern war der Elfjährige von seiner Mutter am Samstagabend losgeschickt worden, um seine drei Geschwister nach Hause zu holen. Als er am wenige hundert Meter entfernten Teich eintrifft, sieht er seinen fünfjährigen Bruder, den Kleinsten, nur noch leblos im Wasser treiben. Er holt Hilfe in der Nachbarschaft, aber die Wiederbelebungsversuche bleiben erfolglos.
Dann wird klar, dass noch zwei weitere Kinder der Familie vermisst werden. Rettungstaucher kommen zum Einsatz. Doch sie können das achtjährige Mädchen und ihren neun Jahre alten Bruder nur noch tot aus dem Wasser bergen. Notfallseelsorger kümmern sich um die Betroffenen.
Bürgermeister Klemens Olbrich ist ebenfalls schockiert. Es herrsche „riesige Betroffenheit“ in dem 700 Einwohner zählenden Ortsteil: „In so einer Situation ist man erstmal geistig gelähmt.“ Nach seinen Angaben ist die Familie vor einem Jahr aus Saarbrücken nach Nordhessen gezogen. Sie habe einen syrisch-kurdisch-türkischen Hintergrund. Die Kinder sind laut Polizei in Deutschland geboren. „Die Kinder waren sehr lebendig, fühlten sich im Dorf sehr wohl.“
Olbrich kündigte an, das tödliche Drama am Dorfteich aufarbeiten zu wollen. „Drei Punkte sind zu klären: eine mögliche Verletzung der Aufsichtspflicht, die Frage nach dem Schwimmunterricht und was nun mit dem Teich, der Brandschutzzwecken dient, geschieht.“
Auch den Pfarrer der evangelischen Kirche in Seigertshausen macht das Unglück tief betroffen. „Unmögliches Leid“ habe sich auf das Dorf gelegt, sagt Reinhard Keller in seiner Predigt. Die Gottesdienstbesucher sind am Morgen bestürzt. „Die Oma sitzt drinnen, die ist fix und fertig“, sagt eine Frau vor der Kirche. „Es tut einem ja so leid, so leid“, sagt eine andere Frau.
„Das ganze Dorf steht unter Schock, die Stimmung ist eine Katastrophe“, sagt die Besitzerin der Landgaststätte „Jägerhof“. Sie hatte sich am Vorabend an der Suchaktion nach den beiden älteren Geschwistern beteiligt. „Wir haben die anderen zwei Kinder gesucht, weil die noch fehlten, die Polizei und auch Mitbewohner im Ort. Wir haben überall gesucht im Ort, in den Gärten, in den Gassen, in der Annahme, die wären weggelaufen“, sagt sie.
Seigertshausen, das heute zu Neukirchen gehört, ist ein historisch gewachsenes Dorf. Schon 1196 wurde es urkundlich erwähnt, viele Familien bauen noch Gerste, Weizen oder Raps an. Es gibt eine Trachtengruppe, eine Burschenschaft, einen Wanderverein und einen evangelischen Frauensingkreis. Hier kennt jeder jeden - und in der Not rücken die Menschen zusammen. So betont Pfarrer Keller in seiner Sonntagspredigt, das Dorf helfe der Familie, „die in dieser Stunde Unsägliches durchmacht“. Die Last, die auf dem Dorf liege, werde zusammen getragen. „Egal, woher sie kommen, egal welcher Konfession oder Religion sie angehören.“