Drei, zwei, eins . . . - was ist eigentlich Zeit?

Der Jahreswechsel ist eine kleine Zeitenwende. Doch was ist das eigentlich — Zeit? Was große Denker und der Volksmund dazu sagen.

Düsseldorf. Die eine Sekunde, dieser Lidschlag der Ewigkeit um 0.00 Uhr an der Wende vom alten zum neuen Jahr, ist für viele etwas ganz Besonderes. Und doch ist es nur ein kleines Stückchen Zeit. Eines von unendlich vielen anderen. Das Rätseln, das Grübeln über die Zeit spiegelt sich in vielen Redewendungen und klugen Gedanken wider. Wir laden Sie ein, „sich Zeit zu nehmen, um über die Zeit nachzudenken“, wie Michael Ende es ausdrückte.

Zeit ist Geld, heißt es. Also ist Zeit wohl wertvoll. Das Problem ist nur: Wer viel Geld hat, hat keine Zeit. Und wer reichlich Zeit hat, ist oft arm. Der volle Terminkalender, der mich erdrückt, zeigt den anderen, dass ich Karriere gemacht habe. Spaziere ich aber vormittags durch mein Viertel, denken die Leute: Der ist außen vor, darf nicht mitrennen in der Gesellschaft, in der schon das Verstreichenlassen eines Termins mit dem Tode bestraft wird. Das jedenfalls suggeriert das englische Wort „deadline“ für den letztmöglichen Termin. Der Schriftsteller Douglas Adams hat diese aufgeregte Übertreibung so verspottet: „Ich liebe Abgabetermine. Ich liebe das zischende Geräusch, das sie machen, wenn sie verstreichen.“

Und doch, so falsch ist das Wort „deadline“, die Todeslinie, nicht. Die Zeit hat untrennbar etwas mit dem Tod zu tun. Wir wollen das Altern zwar stoppen — mit Kosmetik, mit gesundem Leben. Aber diese tickende Uhr werden wir nie anhalten können. Irgendwann heißt es: Deine Zeit ist gekommen. Du musst abtreten von dieser Welt, kannst allenfalls noch einmal das Zeitliche segnen, und an deinem Grab sagen sie dann: Er ist vor der Zeit gegangen.

Schon vor der tödlichen Wirkung nagt der Zahn der Zeit an uns. Aber halt. Wie kann es da gleichzeitig heißen: Die Zeit heilt alle Wunden? Ihr wird also eine medizinische Wirkung zugeschrieben. Und nicht nur das: Kommt Zeit, kommt Rat — das bedeutet doch wohl auch, dass wir demnächst nicht nur gesund, sondern auch schlau werden.

Überhaupt wird das, was noch kommt oder kommen soll, hoffnungsfroh als Zukunftsmusik bezeichnet.

Doch dasselbe scheint auch für die Vergangenheit zu gelten. Liegt eine bestimmte Phase in unserem Leben nur lange genug zurück, wird sie gar verklärt — die gute alte Zeit. Der Schriftsteller Ernest Hemingway kommentierte das so: „Das Merkwürdigste an der Zukunft ist wohl die Vorstellung, dass man unsere Zeit später die gute alte Zeit nennen wird.“

„Früher war alles besser“, sagen wir auch und machen uns dabei etwas vor. Denn wir gestehen uns vielleicht nicht den wahren Grund ein. Dass auch die Gegenwart durchaus eine gute neue Zeit ist, zu der wir in vielerlei Hinsicht aber nicht mehr dazugehören.

Welch ein Frevel, dass wir bei diesen Aussichten immer mal wieder die Zeit vertreiben oder gar totschlagen. Diese Absurdität führt uns der Satiriker Gerhard Polt plastisch vor Augen: „Ich habe ein Stück Zeit eingefangen und es totgeschlagen.“ Doch solche Langeweile kennen viele nicht in ihrer alltäglichen Realität. „Ich habe keine Zeit“, sagen sie. Etwa, wenn sie sich beim Bäcker vordrängeln. Für Hektiker dieses Schlages hat die nordnorwegische Urbevölkerung, die Sami, einen guten Konter parat: „Wenn du keine Zeit hast, warum bist du dann nicht gestern gekommen?“

Und doch kennen wir das alle: Wir wollen keine Zeit verschwenden, doch je mehr Zeit wir planen, desto eher schnüren wir uns in ein Korsett. Gewiss, man kann sich die Zeit einteilen. „Oder sie heile lassen“, schlägt der Schriftsteller Wolfdietrich Schnurre vor.

Die Zeit verschwindet einfach, macht sich klein in der Vergangenheit. Kaum einer hat das so plastisch ausgedrückt wie Friedrich Schiller: „Dreifach ist der Schritt der Zeit: Zögernd kommt die Zukunft hergezogen, pfeilschnell ist das Jetzt entflogen, ewig still steht die Vergangenheit.“

Doch selbst das Jetzt muss nicht immer und für jeden in gleicher Weise pfeilschnell sein. Der Physiker Albert Einstein verdeutlichte dieses Phänomen auf ganz unwissenschaftliche Weise: „Die Empfindung der Zeit hängt davon ab, auf welcher Seite der geschlossenen Klotür man sich befindet.“

Zeit ist nicht greifbar, allenfalls in der Musik. Der französische Schriftsteller Francois Lelord erklärt das so: „Eine einzelne Note berührt Sie nur, weil Sie sich an die vorangegangene erinnern und die nächste erwarten. Jede gewinnt ihren Sinn nur dadurch, dass sie in ein wenig Vergangenheit gehüllt ist und in ein wenig Zukunft.“

Die Musik, jedenfalls dann, wenn sie nicht nur im Hintergrund plätschert, sondern ganz bewusst wahrgenommen oder gemacht wird, ist vielleicht das beste Beispiel für die Konzentration auf das Hier und Jetzt. Wäre das nicht auch etwas für andere Lebensbereiche? Vielleicht gar ein schöner Neujahrsvorsatz nach einem Wort des dänischen Literaten Piet Hein: „Wer nie jetzt lebt, lebt nie — was machen Sie?“