Ein Deutschtürke, der keiner sein will

Hakan Michael Or (35) hat nach Erdogan und Özil genug von seinem Vornamen und der Schublade, in die man ihn steckt. Er ist lieber nur Michael.

Foto: Sergej Lepke

Düsseldorf. Wenn sich ihm neue Bekannte dieser Tage vorstellen, kann es passieren, dass der 35-Jährige kurz innehält. Er muss nachdenken, ob er sich mit seinem ersten oder zweiten Vornamen vorstellt. Denn er hat festgestellt, dass fünf kleine Buchstaben darüber entscheiden können, wie Menschen ihm begegnen. Er heißt Hakan Michael Or. Er ist Deutschtürke — aber das will er eigentlich nicht mehr sein. Jetzt erwägt er sogar, seine Vornamen zu tauschen.

Or wurde in Dormagen geboren, wuchs in Düsseldorf auf. „Es war mir lange nicht klar, dass mein Name eine Rolle spielt.“ In seiner Schulklasse gab es schon zwei Michaels und der Lehrer entschied, er sei dann also der Hakan. „Ich fand das praktisch.“ Erst von da an nannten auch seine Eltern ihn Hakan — vorher hatten sie ihn Michael gerufen, seine Oma mütterlicherseits tut das bis heute. Im Studium lernte er seine heutige Frau kennen und „ich war halt der Hakan“. Bloß ein Name. Inzwischen weiß er, dass sein Name aufgeladen ist mit zig Jahren Geschichte, Politik und kulturellem Unverständnis.

Ors Vater wurde in Istanbul geboren, arbeitete als Landvermesser im Iran, kämpfte dort für Frauenrechte und wurde verhaftet, floh nach Deutschland. „Er redet nicht viel darüber und über die Zeit im Gefängnis.“ Eigentlich sollte es weiter nach Australien gehen. Doch in einem Altstadtcafé traf er Ors Mutter — eine Ur-Düsseldorferin. Sie verliebten sich Hals über Kopf und er blieb.

„Für meine deutschen Großeltern war das ganz schlimm“, sagt Hakan Michael Or. Sein ostpreußischer Großvater hatte große Angst, die Tochter müsse als Frau eines Türken ein Kopftuch tragen. Musste sie nicht. Und sie arbeitete weiter als Krankenschwester. Das wiederum musste sie: Zwei Ausbildungen von Ors Vater in dessen Heimat wurden nicht anerkannt. Er wollte Goldschmied werden, bekam beim Arbeitsamt — so erzählt er — aber den Rat, Türken würden nicht Goldschmied, sondern Schlosser. Also wurde er Schlosser. „Mein Vater hatte immer das Gefühl, dass er es schwerer hatte, sich zu etablieren“, sagt der Sohn. Er selbst hielt das lange für Gemecker.

Erst wissenschaftliche Studien, wonach Menschen mit türkischem Namen bei der Jobsuche benachteiligt seien, säten Zweifel in ihm. „Dann habe ich darauf geachtet.“ Or ist angestellt und handelt mit Maschinenteilen — und plötzlich fiel ihm auf, wie oft ihn Vertriebler nach einem Kundengespräch doch noch mal kurz ansprachen, woher denn der Vorname Hakan komme.

„Nach dem x-ten Mal war ich neugierig.“ Also stellte er sich als Michael Or vor, änderte seine Visitenkarten, das Profil bei einem Online-Jobportal — und erhielt nach Jahren zum ersten Mal Anfragen von Headhuntern, drei hintereinander. „Ist das jetzt Zufall ...?“, fragte er sich. Zumindest wurde er als Michael auch nicht mehr auf seinen ungewöhnlichen Nachnamen angesprochen — als könnte der urdeutsche Vorname dessen Exotik auslöschen.

Seither macht Or sich Gedanken, wer ihn als Hakan und wer als Michael kennen lernen soll. Im Kleingartenverein, wo er das Amt des Wertermittlers bekleidet, ist er natürlich Michael, bei der Suche nach einer Tagesmutter für seinen kleinen Sohn wurde er es irgendwann, nachdem seine Frau ihn gefragt hatte: „Hast du mal drauf geachtet, wie die Kinder hier heißen?“ Wann immer er also den Ruch des Migranten vermeiden will.

„Ich will einfach nicht, dass eine Schublade geöffnet wird, in die ich nicht gehöre“, sagt Or. Er sei durchaus stolz auf seine Vorfahren — auf seine 80-jährige Oma in Istanbul etwa, die fließend Englisch spricht. Aber selbst sein Vater hat den türkischen Pass inzwischen abgegeben und ist deutscher Staatsbürger. Or wuchs nicht einmal zweisprachig auf: „Ich verstehe Türkisch einigermaßen. Sprechen kann ich es fast gar nicht.“ Er fühle sich ein bisschen christlich, ein bisschen muslimisch und auch buddhistisch — seine Frau ist Halb-Taiwanerin, sie sind dort buddhistisch getraut worden. Vor allem: deutsch.

Und dann hört er von einer Dame, die er zweimal mit Kind im Freibad getroffen hat, sie habe doch erst mal schauen müssen, ob er „ein traditioneller Typ“ sei. Und selbst langjährige Freunde beginnen neuerdings politische Unterhaltungen mit: „Entschuldige mal, aber euer Erdogan ...“ Spätestens seit der Özil-Debatte ist er schwer genervt.

Endgültig erklären kann er sich nicht, weshalb der Hakan für viele Menschen eine so viel größere Rolle spielt, als es wohl ein John oder ein Pierre oder ein Franco täte. Vielleicht bekämen auch diese drei Nachfragen zu ihrer Herkunft, wären aber nicht so berührt davon. Aber die Ausdrücke Deutschengländer oder Deutschfranzose gibt es nun einmal nicht. Und wenn brasilianische Fußballfans zur WM vor einer Cocktailbar in der Düsseldorfer Innenstadt eine Sambaparty in grün und gelb feiern, bricht das keine Desintegrationsdebatte um Lateinamerikaner vom Zaun. Die Frage, wie deutsch und wie türkisch ein Deutschtürke ist hingegen, ist eine besonders empfindliche.

Hakan Michael Or hat keine Lust mehr drauf und überlegt, seinen Namen in Michael Hakan zu ändern. Keine Schubladen mehr. Keine Fragen zur türkischen Innenpolitik, mit der er sich nicht auskennt. Seinem Vater würde er das aber wohl nicht erzählen. „Er würde es letztlich wohl verstehen“, sagt Or. Aber ein bisschen täte es ihm auch weh.