Ein Historiker bleibt wissbegierig
Seine zweibändige Hitler-Biografie gilt als Standardwerk der Geschichtsforschung. Am Montag wird Ian Kershaw 70 Jahre alt.
London. Ian Kershaw ist als Historiker gewissermaßen der Experte für Unheil. Deutschlands düstere Etappe — die Hitlerzeit — ist sein Steckenpferd, er schrieb mehrere Bestseller zur Thematik, erntete internationale Anerkennung. Seine zweibändige Hitler-Biografie gilt als Standardwerk. Für „Das Ende“ — eine Untersuchung zur Frage, warum Deutschland im Zweiten Weltkrieg bis zum bitteren Ende kämpfte — wurde er im vergangenen Jahr mit dem Leipziger Buchpreis für Europäische Verständigung ausgezeichnet. Am Horizont des heutigen Europa sieht Kershaw, der am Montag 70 Jahre alt wird, auch Gefahren heraufziehen.
Seit Beginn der Wirtschaftskrise hat die extreme Rechte in Europa an Boden gewonnen. „Es gibt sehr unerfreuliche Anzeichen für einen neuen Nationalismus und Rassismus“, sagt Kershaw. Vergleiche zu den faschistischen Bewegungen vor dem Zweiten Weltkrieg weist er dennoch zurück. „Das Erstaunliche am heutigen Europa verglichen mit den 1920er und 30er Jahren ist, wie wenig politische Umbrüche es gegeben hat. Es hat keine faschistischen, autoritären oder militärischen Machtergreifungen nach Diktatorenart gegeben“, sagt der Historiker, der zuletzt an der Universität von Sheffield lehrte und 2008 in den Ruhestand ging.
Ganz sicher eine Rolle spielen wird die EU in Kershaws nächstem Werk zur Geschichte Europas im 20. Jahrhundert. „Das letzte Buch, das ich schrieb, hieß ,Das Ende’, und es hatte den netten metaphorischen Beigeschmack, dass damit auch das Ende meiner Arbeiten über Nazi-Deutschland gemeint war. Es ist nun sehr schön, eine Panorama-Studie über den gesamten Kontinent über einen langen Zeitraum anzugehen.“
Der Titel eines seiner anderen Bücher, „Wendepunkte“ (Fateful Choices), könnte sich auch auf Kershaws eigenes Leben beziehen. In der Schule wählte er Geschichte als Fach aus. Als er in den späten 1960ern begann, an der Universität Manchester mittelalterliche Geschichte zu unterrichten, lernte er am Goethe-Institut Deutsch — spricht es fließend.
Das Interesse am Dritten Reich wurde während eines Aufenthaltes in der Kleinstadt Grafing nahe München im Jahr 1972 geweckt — Kershaws eigene historische Wende. Nach München war er mit einem Stipendium des Goethe-Instituts für zwei Monate gegangen. Damals, kurz nach den Studentenrevolten von 1968, forderte die junge deutsche Generation Antworten über die Vergangenheit ein. „Es gab viele aktuelle Debatten in Deutschland, und ich tauchte rasch in sie ein.“
Bei engen deutschen Freunden und deren Familien faszinierte ihn die „absolute Diskrepanz“ zwischen dem Deutschland der Nazizeit und dem Deutschland, das sich ihm selbst zeigte. Als er nach Großbritannien zurückkehrte, bewarb er sich für die Arbeit in der Abteilung für moderne Geschichte und wurde, zu seiner eigenen Überraschung, angenommen. Es wurde der Beginn einer international angesehenen Laufbahn.
Die deutsche Regierung würdigte Kershaws Beiträge zur Geschichtsschreibung 1994 mit dem Bundesverdienstkreuz — eine Ehre, die er nach eigenen Worten sogar dem „neo-feudalen“ Ritterschlag der britischen Königin von 2002 vorzieht.
Und auch wenn er immer noch ein leidenschaftlicher Mittelalter-Spezialist ist, hat der 70-Jährige seine Entscheidung, nicht zu versuchen, Europas führender Experte zur Bauernrevolte von 1381 zu werden, nie bereut. „Obwohl es viele verschiedene Aspekte der Geschichte gibt, die erfreulicher sind als die Nazizeit, gibt es kaum welche, die wichtiger sind“, sagt der Historiker überzeugt.