Ein Stift — acht Millionen Motive
Jason Polan (28) will alle Einwohner seiner Heimatstadt New York zeichnen. Ohne jede Pause würde er dafür 15 Jahre brauchen.
New York. Die Motive werden Jason Polan wohl nicht ausgehen. 14 000 Porträts hat der 28-Jährige schon zu Papier gebracht. Acht Millionen weitere sollen folgen. Der Illustrator aus New York hat sich auf eine kühne Mission begeben: Er will jeden Einwohner der Riesenstadt New York zeichnen. Als stiller Beobachter postiert sich Polan an Bahnhöfen, an Straßen und in Parks und zeichnet Passanten, ohne dass die es merken. Eine Minute braucht er pro Bild.
Rechnerisch wäre er 15 Jahre lang beschäftigt — müsste dann rund um die Uhr zeichnen und auf Schlaf, Essen und Pausen verzichten. Zudem dürfte sich die Einwohnerzahl nicht verändern.
Polan weiß selbst um die Unmöglichkeit seines Projekts. „Ich werde scheitern, ich werde wohl nicht alle zeichnen können, aber der Versuch macht mir Spaß“, sagt der Künstler. An diesem Tag steht er still in einer Ecke der Grand Central. Unauffällig fügt er sich in die Menschenmasse ein. Ein Mann mit Gips, eine Frau mit Paket, ein Buckliger — Polan zeichnet, ohne dafür auf seinen Block zu schauen.
Es bleibt nur Zeit für einige wenige charakteristische Striche. Seine Motive eilen schnell vorbei. Jede Skizze muss sitzen, Polan bessert die Zeichnungen später nicht nach. „Mir geht es um Natürlichkeit“, sagt er. Diese will er erreichen, indem er heimlich zeichnet und die Porträtierten gar nicht erst um Erlaubnis bittet. „Es ist eine Art Versteckspiel.“
Es ist eine Leidenschaft fürs Katalogisieren, die den jungen Künstler treibt. Einmal kaufte er eine Tüte Popcorn und zeichnete jedes einzelne Stück Popmais aus der Packung. Zudem hat er jedes Kunstwerk in New Yorks riesigem Museum of Modern Art abgezeichnet.
Nun sammelt er eben menschliche Gesichter, jedes einzelne datiert und mit Ortskennung versehen. Zu den Porträtierten zählt die 43-jährige New Yorkerin Susan Dunlap. Während sie in einem Buch lesend auf den Zug wartete, wurde sie von Polan skizziert. „Cool“, entfährt es Dunlap, als sie ihr Porträt sieht. Dass Polan sie heimlich gezeichnet hat, stört sie nicht. „New York ist eben ein ziemlich schräger Ort.“
Bei allem zeichnerischen Eifer ist dem schüchternen Künstler eine Sache höchst unangenehm — nämlich selbst zum Motiv zu werden. „Es macht mich einfach nervös, fotografiert zu werden“, sagt er. „Es macht mich sogar nervös, wenn mich jemand zeichnet.“
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