Fukushima-Reaktoren geraten außer Kontrolle
Tokio (dpa) - Das von Katastrophen gebeutelte Japan zittert vor dem Super-GAU: Verzweifelt kämpfen die letzten 50 Arbeiter im AKW Fukushima um den havarierten Reaktor 4, wo am Mittwochmorgen (Ortszeit) erneut ein Feuer ausbrach.
Das berichtete die Nachrichtenagentur Kyodo unter Berufung auf den Betreiber Tepco. Nach TV-Angaben ist der brennende Reaktor nicht zu betreten. Weiter hieß es, dass um 06.00 Uhr Ortszeit (22.00 Uhr deutscher Zeit) 60 Kilometer entfernt von dem Krisen-AKW eine radioaktive Strahlung gemessen worden sei, die 500 Mal über den normalen Werten liege.
Ob diese Gefahr in direktem Zusammenhang mit dem neuen Feuer steht, war anfangs nicht bekannt. Ein Arbeiter habe das Feuer um 05.45 Uhr Ortszeit in dem Reaktorgebäude entdeckt.
Zuvor versuchten die letzten Arbeiter vor Ort, aus Hubschraubern Wasser abzuwerfen, um die Brennstäbe in dem Reaktor zu kühlen. In der Außenwand des Reaktorgebäudes klaffen große Löcher. Ein erster Brand war dort am Dienstag nach kurzer Zeit gelöscht worden.
Am Dienstag war in Fukushima erstmals der innere Schutzmantel eines Reaktors beschädigt worden, als Block 2 explodierte. Damit sind vier der sechs Reaktoren beschädigt. Der AKW-Betreiber Tepco sprach von einer „sehr schlimmen“ Lage und warnte vor Kernschmelzen. Die Strahlungswerte stiegen so dramatisch, dass Tepco sich gezwungen sah, alle bis auf 50 Arbeiter abzuziehen.
In einzelnen Bereichen des AKW wurden nach Unternehmensangaben zwischenzeitlich 400 Millisievert gemessen - dies übersteigt den Grenzwert der Strahlenbelastung für ein Jahr um das 400-Fache, wie die Agentur Kyodo schrieb. Noch im 240 Kilometer entfernten Tokio war die Belastung laut dem Sender NHK zeitweise um das 22-Fache erhöht.
Die Fukushima-Betreiber befürchten dem Anschein nach Explosionen auch in den beiden unbeschädigten Reaktoren: Laut Internationaler Atomenergiebehörde IAEA zog Tepco in Erwägung, Platten von den Reaktoren 5 und 6 zu entfernen, um dort mögliche Wasserstoff-Staus zu verhindern. Hoffnung ruht auf Atomexperten aus den USA - die neun Spezialisten sollen am Mittwoch in Tokio ankommen und technische Hilfe bringen.
Die japanischen Behörden fürchten, dass vier Tage nach dem gewaltigen Erdbeben und dem Tsunami die Zahl der Toten auf über 10 000 steigt. Die offizielle Zahl der Toten stand am Dienstag bei 3373, wie die Zeitung „Japan Times“ berichtete. Die japanische Regierung stellt in einem ersten Schritt rund 265 Millionen Euro als landesweite Notfallhilfe bereit. Das Technische Hilfswerk (THW) brach seinen Einsatz in dem Katastrophengebiet ab. Rund 100 Stunden nach Beben und Tsunami gebe es praktisch keine Chancen mehr, dass es in den Katastrophengebieten noch Überlebende gebe.
In Deutschland nimmt eine historische Energiewende Formen an: Die ältesten Atomkraftwerke müssen vorübergehend vom Netz. Bis Mitte Mai werden nur noch 9 von 17 Meilern Strom liefern. Mindestens fünf Kraftwerke könnten dauerhaft abgestellt werden. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) sagte nach einem Treffen mit den Ministerpräsidenten der AKW-Länder: „Sicherheit ist das, was in allen Betrachtungen Vorrang hat.“
Die vorübergehende Abschaltung betrifft die sieben vor 1980 gebauten AKW Neckarwestheim I, Philippsburg I (Baden-Württemberg), Biblis A und B (Hessen), Isar I (Bayern) und Unterweser (Niedersachsen) sowie das ohnehin stillstehende AKW Brunsbüttel (Schleswig-Holstein). Zudem bleibt als achter Meiler das nach Pannen abgeschaltete AKW Krümmel in Schleswig-Holstein vom Netz getrennt. Damit liefern in Deutschland in den nächsten drei Monaten nur neun Atomkraftwerke Strom.
Die Kanzlerin will an diesem Donnerstag vor dem Bundestag eine Regierungserklärung zur Lage in Japan abgeben. Dabei dürften auch die Entscheidungen zur deutschen Atomkraft eine wichtige Rolle spielen.
Bundeswirtschaftsminister Rainer Brüderle (FDP) wies darauf hin, dass sich die Abschaltungen auf die Energie-Preise auswirkten. Der Sprecher des Verbraucherportals Verivox, Jürgen Scheurer, sagte der dpa: „Das Abschalten von Kernkraftwerken wird die Strombörsenpreise vermutlich deutlich ansteigen lassen.“ Dies müsse nicht zwangsläufig komplett auf die Verbraucher umgelegt werden.
Die Atomkatastrophe löste an den Börsen weltweit Kursstürze aus: In Tokio reagierten Anleger mit Panikverkäufen auf die Eskalation des Atomunglücks - die japanische Börse erlebte ihren höchsten Kursverlust seit dem Höhepunkt der Finanzkrise vor zweieinhalb Jahren. Der Leitindex fiel zeitweise um mehr als 14 Prozent. Seit dem Erdbeben wurden bislang mehr als 700 Milliarden Dollar (530 Mrd Euro) an Werten an der Tokioter Börse vernichtet. In Deutschland stürzte der Aktienmarkt mit einem Minus von zeitweilig mehr als 5 Prozent auf den tiefsten Stand seit Oktober 2010.