„Für billig sind wir nicht zu haben“

Hin- und hergerissen zwischen Oppositions-Trotz und Macht-Optionen, steigt die SPD in NRW zunächst einmal in Sondierungsgespräche mit sich selbst ein. Ein Besuch an der Basis.

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Ratingen/Velbert. Samstagsmorgens ist im Café Feit an der Oberstraße immer gut zu tun. Die Pralinen und der Baumkuchen aus der Konditorenstube von Astrid und Andreas Feit sind legendär, das Frühstück vor oder nach dem Marktbesuch ist beliebt. Man sieht sich, man kennt sich, es ist voll, aber für zwei Personen findet sich immer irgendwo ein Tisch. Normalerweise. Hierhin hat Kerstin Griese die Wählerinnen und Wähler der SPD eingeladen, um von der Basis zu hören, was die so denkt über Neuwahlen, Opposition oder Regierung, Verantwortung für das Land und die Partei, und wie das alles so weitergehen soll. Die SPD sondiert mit sich selbst, was nach all den politischen Achterbahnfahrten dieses Jahres aus ihr werden soll.

Kerstin Griese ist im Kreis Mettmann nicht nur Bundestagsabgeordnete (seit 2000 mit kurzer Unterbrechung), sondern auch Kreisvorsitzende. Dazu gehört sie sowohl dem Landes- als auch dem Bundesvorstand der Sozialdemokraten an. Die 50-Jährige, bislang Vorsitzende des Bundestags-Ausschusses für Arbeit und Soziales, hat alle Beschlüsse der Parteiführung mitgetragen; sowohl die Oppositionsbekräftigung auf Bundesebene am Beginn der vergangenen Woche wie auch die Rolle rückwärts des Bundesvorsitzenden und der NRW-SPD vom vergangenen Freitag.

Der Landesverband hat inzwischen beschlossen, dem Bundesvorsitzenden und Kanzlerkandidaten Martin Schulz einen Brief mit einer „inhaltlichen Orientierung für Gespräche gleich welcher Art“ zu schreiben. Sechs Punkte sollen drin stehen, es geht um sozialdemokratische Positionen, die die NRW-Partei für unverzichtbar hält. Es geht um Sozialpolitik, zu der Griese in den Jamaika-Gesprächen gar nichts gehört hat, es soll um Gesundheitspositionen gehen, um die Rente und die Einwanderungspolitik. Daran hält der Landesvorstand sich fest. Es ist ein Papier mehr von so vielen Papieren, die derzeit im Umlauf sind. „Ich schließe nichts mehr aus, und ich weiß nicht, wie es ausgeht“, sagt Griese, die eigentlich glaubt, „dass die Zeit von Frau Merkel als Kanzlerin vorbei ist.“ Aber wenn der Bundespräsident rufe, müsse man sprechen.

Hans Kraft, SPD-Landtagsabgeordneter aus Ratingen

15 Interessierte haben sich gemeldet, nachdem Griese am Donnerstag öffentlich eingeladen hat. Dafür lohnt es nicht, einen geschlossenen Raum zu buchen. Und so versammeln sich die Interessierten am Samstagmorgen zwanglos im großen Gastraum des Cafés. Aber es werden immer mehr. Statt der angemeldeten 15 sitzen um kurz vor 11 Uhr bereits mehr als 30 an den wenigen reservierten Tischen. 60 Wähler und Parteimitglieder werden es schließlich; ein spontaner, öffentlicher Parteitag, der versucht, leise zu sprechen, um die übrigen Café-Gäste nicht zu vergraulen. Die Ratinger SPD-Vorsitzende und Landtagsabgeordnete Elisabeth Müller-Witt ist gekommen, Jens Niklaus, SPD-Chef in Haan-Gruiten und gescheiterter Bundestagskandidat im Wahlkreis 104, ist dabei und Stephan Lauber aus dem Langenfelder SPD-Vorstand.

Kerstin Griese lässt sie reden, ohne Vorsortierung, frei von der Leber weg. Denn das tun sie draußen vor der Tür ja ohnehin, und weil man sich kennt, weiß man häufig auch ohne neue Faktenlage, wie die Stimmung ist. „Wir verspielen das letzte bisschen Glaubwürdigkeit, wenn wir jetzt einfach weitermachen“, sagt der linke Fraktionschef der SPD im Ratinger Rat, Christian Wiglow, und wirbt für eine „Tolerierungsvereinbarung“ statt eine Regierungsvereinbarung: „Merkel ist Sturmtief. Die wird uns geben, was wir wollen. Das Problem sind die Leute auf der Straße. Wir bekommen das nicht kommuniziert.“ Mit der Ansicht, eine „Tolerierung“ sei besser als eine Fortsetzung dessen, was einmal eine große Koalition war, ist Wiglow nicht allein. Im Grundsatz sehen Elisabeth Müller-Witt und einige andere das auch so.

Andere nicht. Joachim Galinke, seit Jahrzehnten im Stadtteil West engagiert, wo die sozialen Herausforderungen größer sind als im wohlständigen Ratingen, war selbst mal Vorsitzender der SPD-Ratsfraktion und erklärt sich die Oppositions-Entscheidung aus der August-Angst der Partei, komplett „geschreddert“ zu werden. „In dieser Situation heute muss man keine Angst haben“, findet Galinke, und dass es doch ein Vorteil sei, „wenn unser nächster Kanzlerkandidat heute schon in der Regierung sitzt.“

Und dann redet mal einer Klartext. Hans Kraft, Ratinger SPD-Landtagsabgeordneter von 1985 bis 2005, dreimal direkt im vermeintlich „schwarzen“ Ratingen gewählt, ist dafür, „mit aufrechtem Rücken“ in die Regierung zu gehen: „Es war ein Fehler von Schulz, gleich nach der Wahl den Gang in die Opposition zu verkünden. Da schläft man erstmal zwei Nächte drüber, bevor man den Mund aufmacht.“ Und auch von der angekündigten Erneuerung der Partei verspüre er nicht viel, dafür aber von den Beharrungskräften des Partei-Establishments. „Die vergangenen Wochen interessieren mich wenig, könnte sein und hasse nich gesehen — das alles war wie halb schwanger. Deshalb große Koalition“, sagt Kraft.

So entschieden sind nicht alle. Eigentlich müsse Merkel weg, finden viele — und die Idee mit der Tolerierung einer Minderheitsregierung gar nicht so übel. Andererseits: Gehen die Schwarzen sich dann ihre Mehrheiten nicht einfach woanders holen. Und überhaupt: Wie soll das werden, wenn die AfD im Bundestag künftig die Vorsitzenden von zwei, eher drei Ausschüssen stellt? Kerstin Griese schreibt das alles mit. 90 Prozent der Mails, die sie erhalten habe, forderten die Parteispitze auf, auf jeden Fall zu verhandeln. Klar sei aber auch: „Für billig sind wir nicht zu haben.“

Eine Stunde und viele Kaffeekannen weiter, die im Minutentakt aus der Küche im Café Feit kommen, ist zumindest klar, was an der SPD-Basis keiner will: Neuwahlen. Lieber ausloten, was geht, was man verantworten kann, was man verantworten muss und wo Schluss ist. Und immer wieder betonen, wer an all dem die Schuld trägt: die Merkel. Und dieser Lindner, den Griese einen „unverantwortlichen Gesellen“ nennt.

Dann muss die Abgeordnete und Kreisvorsitzende weiter, nach Velbert ins Thomas-Carreé an der Friedrichstraße, zum nächsten Basisgespräch. Auch dort haben sich nur wenige angemeldet, aber rund 40 kommen. Es läuft ähnlich wie in Ratingen: gut. Die Partei versammelt sich um sich selbst. Das ist sie im Kreis Mettmann aber auch gewohnt, wo sie immer schon kämpfen musste und noch nie etwas geschenkt bekommen hat, und wo es in den Städten und Gemeinden mit meist unspektakulären Themen wie Verkehrsberuhigung, Jugendtreff-Zuschüssen und Schulsanierungen eh schwer ist, sich von den Schwarzen abzusetzen.

Am späten Nachmittag fasst Kerstin Griese die Ergebnisse dieses spontanen faktischen Parteitags in zwei Teilen zusammen, an denen mehr als 100 Leute teilgenommen haben: „Die übergroße Mehrheit sagt: Verhandelt und versucht, so viel wie möglich für sozialdemokratische Inhalte raus zu bekommen. Eine Mehrheit ist dafür, das in einer großen Koalition zu versuchen.“ Die Eindeutigkeit, mit der drei Viertel sich für das Verhandeln und Ausloten verschiedener Modelle ausgesprochen hätten, habe sie selbst überrascht, so Griese bei Twitter. Nach dem Bundesparteitag in zwei Wochen will Griese die Partei wieder informieren und befragen.