200 Jahre „Stille Nacht“ Ein Weihnachtslied für die ganze Welt
Salzburg/Berlin · Am Nachmittag des Heiligabend 1818 klopft der katholische Priester Joseph Mohr in einem verschneiten Dorf bei Salzburg an die Tür des Lehrers Franz Xaver Gruber. Die Orgel in der Kirche ist kaputt. Mohr bittet seinen Freund deshalb, ihm noch heute einen Gedicht-Text zu vertonen, den beide dann in der Christmette um Mitternacht zur Gitarre singen werden: Stille Nacht, heilige Nacht.
Friedrich Wilhelm IV., Preußenkönig und „Romantiker auf dem Thron“, der das Abschlachten von Bürgern und Revolutionären lieber seinem Bruder und späteren Kaiser Wilhelm I. überlässt, liebt dieses Weihnachtslied. Stille Nacht, heilige Nacht. Es ist so einfach und so ergreifend. Friedrich Wilhelm ist verzückt, wenn sein Domchor „Stille Nacht“ in der Christmette singt. Der Chor hat die Melodie und den Text von einer Familie Strasser aus Tirol übernommen, die singend über Märkte Deutschlands zieht und in Berlin Station macht. Und die Strasser-Kinder sind längst nicht die einzigen, die mit dem Lied auf Tournee gehen.
Noch erfolgreicher als die Strassers sind die Geschwister Rainer, die ebenfalls aus Tirol stammen und mit dem schönen Lied um die Welt ziehen. 1822 treten sie in Österreich vor Kaiser Franz Joseph I. und Zar Alexander I. auf. Der Zar lädt sie begeistert nach Russland ein – und es folgt eine Tournee durch ganz Europa. 1839 haben sie „Stille Nacht“ bereits für König Georg IV. in England gesungen und brechen nach Amerika auf. Kurz vor Weihnachten treffen sie in New York ein. Sie singen das Lied in der Trinity Church am Broadway – zum ersten Mal in englischer Sprache: Silent Night.
Friedrich Wilhelm IV. beauftragt seine Hofkapelle, den Komponisten ausfindig zu machen und endlich die Original-Partitur seines Lieblings-Lieds zu beschaffen. Aufgrund der Erzählungen der Strassers vermuten die Preußen einen Bruder Josef Haydns als Komponist, von dem mehrere ähnlich volkstümliche Kirchenlieder in österreichischen Klöstern kursieren. Also wendet sich die Hofkapelle 1854 mit der Bitte um eine Haydn-Abschrift von „Stille Nacht“ an das Stift Sankt Peter bei Salzburg.
Aber das Lied ist nicht von Michael Haydn. Es stammt aus dem Salzburger Umland und aus einer Zeit, als die Gegend in Elend und Armut versank. In dem nahen Städtchen Hallein treibt die Salzburger Stiftsverwaltung schließlich den Komponisten auf. Es ist der dortige „Stadtpfarrchorregent“ Franz Xaver Gruber. Am 30. Dezember 1854 notiert er auf zwei Seiten seine „Authentische Veranlassung zur Composition des Weihnachtsliedes ‚Stille Nacht, Heilige Nacht‘“. Gruber, der von der Weltkarriere seines Liedes nichts weiß, ist verwundert über das Aufheben, das die Preußen um die kleine Melodie machen. Als er sie vor 26 Jahren mit schlechter Tinte auf schlechtes Papier einer schlechten Zeit schrieb, vermerkte er in seinem Tagebuch, es sei nur eine einfache Komposition ohne Bedeutung.
„Es war am 24. Dezember des Jahres 1818“, so Gruber und erzählt dabei von sich in der dritten Person, „als der damalige Hilfspriester Herr Joseph Mohr bei der neu errichteten Pfarrkirche (St. Nicola) in Oberndorf (bei Laufen an der Salzach) dem Organistendienst versehenden Franz Gruber (damals zugleich auch Schullehrer in dem nahe gelegenen Arnsdorf) ein Gedicht überbrachte mit dem Ansuchen, eine herauf passende Melodie für zwei Solostimmen samt Chor und für eine Guitarrenbegleitung (statt der miserablen Orgel daselbst) setzen zu wollen.“ Noch am selben Abend habe er, Gruber, die Komposition dann dem Dichter überbracht, der sie als gelungen bezeichnet habe. Hilfspfarrer Mohr habe dann sogleich „etliche Sängerinnen“ für den Chor rufen lassen. Das Solo hätten Mohr („vortrefflicher Tenorist“) und er, Gruber (als Bass) gesungen. Dann habe man beschlossen, „es bei dem heil. Christ-Amte in der Nacht um 12 Uhr zur Aufführung zu bringen.“ Dass Mohr laut Grubers Bericht in der Christmette 1818 „Sängerinnen“ für den Chor einsetzt, ist für den Ort und die Zeit mindestens ungewöhnlich. In der Schifferkirche St. Nikola sitzen Männer und Frauen nicht bloß getrennt, wie das in vielen Kirchen üblich ist. Dort schirmt eine brusthohe Mauer im Mittelgang die Geschlechter während des Gottesdienstes voneinander ab.
Viel Zeit kann Gruber für die Komposition am Heiligabend 1818 nicht gehabt haben: Nachmittags klopft der Pfarrer, abends bringt der Komponist die Noten. Dazwischen liegen gut zwei Kilometer Fußweg von Arnsdorf nach Oberndorf über verschneite, miserable Wege – und zwölf Takte Musik für die Ewigkeit.
Die schlimmste Hungersnot des 19. Jahrhunderts bricht an
Gruber hat zwei Jahre zuvor zusätzlich zur seiner Anstellung in Arnsdorf den Kantoren- und Organistendienst in der Schifferkirche St. Nikola zu Oberndorf übernommen. Ausgerechnet 1816. Es ist das Höllenjahr Europas, das „Jahr ohne Sommer“, in dem nach einem Vulkanausbruch auf Sumatra im Frühjahr erst der Winter zurückkehrt, dann der Regen nicht aufhört und anschließend Hochwasser vernichtet, was noch nicht verdorben ist. Die schlimmste Hungersnot des 19. Jahrhunderts bricht an. Hinzu kommen politische Umwälzungen. Das Erzbistum Salzburg verliert mit dem Ende der Napoleonischen Kriege seine landesherrliche Eigenständigkeit, 1816 fällt es an Österreich.
Gleichzeitig wird die Stadt Laufen, zu der Oberndorf gehört, zwischen Bayern und Österreich geteilt. Die wichtigen Kirchen der Stadt, die seit dem Mittelalter von der Salzschifffahrt auf dem Fluss Salzach gelebt hat, liegen nun auf der bayerischen Seite. St. Nikola, bis dahin ebenfalls bayerisch verwaltet, fällt an Österreich. Die Salzach ist jetzt Grenzfluss. Sie trennt nun Familien und zerschneidet Wirtschaftsbeziehungen. Die einst so stolze Kirche der verelenden Salzschiffer, an der Gruber den Orgeldienst übernimmt, wird vom Erzbistum Salzburg zur „Seelsorgestation Österreichisch-Laufen“ herabgestuft.
Hierher verschlägt es im September 1817 den jungen Kaplan Joseph Franz Mohr. Er soll eigentlich den Pfarrverwalter Josef Kessler unterstützen, aber der progressive Geistliche wird kurz nach Mohrs Ankunft versetzt. Sein Nachfolger schreibt bereits vier Wochen später den ersten Beschwerdebrief über Mohr. Und fährt damit unaufhörlich fort. Ein Jahr später, im Oktober 1818, lässt er gar kein gutes Haar mehr an Mohr: Der sei seelsorgerisch eine Katastrophe, faul, habe „keine besondere Freude zur Schule und Kranken-Besuch“, sein priesterlicher Lebenswandel sei mangelhaft und ihm gehe „der nöthige Subordinations Geist“ ab. Außerdem scherze er „auch mit Personen anderen Geschlechts“ und falle durch das „Singen oft nicht erbaulicher Lieder“ auf.
Bis Salzburg 1816 an Österreich fällt, gilt im Land ein kirchliches Bettelverbot. Der letzte Fürst-Erzbischof von Salzburg, Hieronymus Graf Colloredo, verbietet auch das Sternsingen. Denn Almosen, so der Kirchenfürst, sind ja nichts anderes als eine „Belohnung der Arbeitsscheu“. Mit dem Sternsingen verbietet Colloredo auch die öffentliche Zurschaustellung von Weihnachtskrippen; alles bloß Bettelei und Arbeitsscheu. Die Kindersterblichkeit in Salzburg rafft halbe Geburtsjahrgänge dahin, die Bevölkerung der Stadt sinkt auf 8000 Menschen; rund 15 Prozent sind ohne jedes Einkommen. Im Höllenjahr 1816 schreibt der verzweifelt um seinen Glauben ringende Priester Franz Mohr eines Abends ein Gedicht. Stille Nacht! Heilige Nacht! Alles schläft, einsam wacht, nur das traute heilige Paar. Holder Knab im lockigten Haar, schlafe in himmlischer Ruh, schlafe in himmlischer Ruh! Es folgen fünf weitere Strophen.
Wie der Lehrer Gruber stammt Mohr aus bescheidenen Verhältnissen, und wie Gruber wäre er lieber Musiker geworden. In Franz Xaver Gruber findet Mohr einen Freund. Und einen Mitstreiter für eine Kirche, die sich endlich den Menschen zuwendet. In einer Sprache, die sie verstehen. Deutsch statt Latein, wenn die Priester schon die Messe mit dem Rücken zur Gemeinde zelebrieren. Und mit einer Musik, die sie berührt und tröstet. Die, die alles verloren haben, und denen keine Hoffnung wächst.
Kann ein Lied dieses Leid lindern? Was ändern zwölf Takte tröstlicher Musik und ein berührender Text am Elend der hungernden Salzschiffer in Oberndorf? Denen die Kirche ihre Weihnachtsbräuche, ihre Krippen und das Sternsingen verboten und als Ausdruck ihrer Wertlosigkeit verächtlich gemacht hat? Ist der Mohr verrückt? Ein weltentrückter Schwärmer, der doch nichts ändern kann und bloß die Leute verwirrt? Was soll das für eine Weihnacht werden, in einer maroden Kirche mit einer kaputten Orgel? Zwei Jahre trägt Franz Mohr sein Gedicht jetzt mit sich herum. Stille Nacht! Heilige Nacht! Jetzt macht er sich auf den Weg zu Gruber.
Mohr stapft zwei Kilometer durch den Schnee, immer sein Gedicht im Kopf. „Alles schläft, einsam wacht, nur das traute heilige Paar.“ Mag die Orgel auch kaputt sein, er hat ja noch seine Gitarre. „Holder Knab im lockigten Haar.“ Da war dieses Bild in der Wallfahrtskirche Mariapfarr im Lungau, der Heimat seines Großvaters, mit dem blonden Christusknaben. Eine Hoffnung. Der Glaube, dass dieses Kind der Heiland ist. „Schlafe in himmlischer Ruh, schlafe in himmlischer Ruh!“ Es wird ein Morgen geben, ein Aufwachen. Dieses Kind ist arm und den Armen geboren. „Hirten erst kundgemacht, durch der Engel Alleluja.“ Kein Bischof kann das verbieten. „Tönt es laut bei Ferne und Nah: Jesus der Retter ist da! Jesus der Retter ist da!“ Der Gruber wird die Musik dazu schreiben.
Franz Xaver Gruber hat nicht viel Zeit für die Melodie
Vielleicht ist es Glück, dass Franz Xaver Gruber nicht viel Zeit für die Melodie hat. Er muss sich auf das verlassen, was er kann und was er kennt. Also kombiniert er zwei Erfolgsrezepte. Als Tonart wählt er natürlich das besonders feierliche D-Dur. Wenn er schon keine Orgel nutzen kann, dann wenigstens die Tonart, in der Bach die „Air“ und die „Toccata“ geschrieben hat. Auch etliche feierliche Stücke von Beethoven und Mozart sind in D-Dur. Außerdem wird das für Franz Mohr leicht auf der Gitarre zu begleiten sein. D, A7, G, Em – vier ganz einfache Akkorde. Das zweite Element ist der Rhythmus. Gruber entscheidet sich für den klassischen „Siciliano“ mit sechs Achteln. Viele Stücke aus der Barockzeit sind so geschrieben – und es ist, passend zum Text, ein gebräuchlicher Rhythmus für Wiegenlieder. Das Lied wird tatsächlich wiegend klingen, sehr zärtlich und ein bisschen melancholisch.
Diese sehr einfachen Zutaten werden ihre Wirkung nicht verfehlen, besonders originell sind sie nicht. Das wird ihm später den Vorwurf eintragen, er habe das irgendwo abgeschrieben, vielleicht von einem österreichischen Volkslied oder doch bei Haydn. Auch Mohr wird mehr als 100 Jahre nach seinem Tod mit dem Vorwurf belastet, er habe den Text gar nicht selbst geschrieben, sondern bloß übersetzt. Auf einer Dorfkirchenempore im Bayerischen Wald wird ein lateinischer Text gefunden, dessen erste Strophe lautet: „Alma nox, tacita nox! Omnium silet vox, sola virgo nunc beatum ulnis fovet dulcem natum. Pax tibi puer, pax!“ Das belegt gar nichts, er hat auch bloß drei statt sechs Strophen, und es ist nicht einmal klar, ob Mohr ihn kannte.
Für die Christmette an Heiligabend 1818 in der schlichten Kirche der Salzschiffer spielt das alles keine Rolle. „Herr Mohr besaß eine schöne Guitarre, welche er auch besonders gut, mit vollem Tone zu spielen verstand“, schreibt Gruber in seiner „Authentische Veranlassung“ für die Preußen. Die ländliche Bevölkerung, die ein solches Instrument vielleicht noch nie gesehen habe, habe es anfänglich für eine Insekten-Falle gehalten. „Erst als sie die schönen Töne hörte, wurde es ihr begreiflich, zu was ,das Ding‘ gehörte.“ Mit dem Erfolg des Vortrags ist der Komponist sehr zufrieden: „Das Lied fand ungeteilten Beifall. Die größte Stille herrschte, als die beiden Stimmen begannen: ,Stille Nacht‘. Der Chor, nach dem Gehör gesungen, war recht brav vorgetragen und erhöhte den Eindruck.“
Mit der Aufführung in der Christmette der heiligen Nacht 1818 hätte die Geschichte des Liedes zu Ende sein können. Doch offenbar setzten sich Melodie und Text in den Köpfen der Menschen fest. So erfuhr auch der Orgelbauer Karl Mauracher davon, der 1825 – endlich – die Oberndorfer Orgel reparierte. Maurarcher fertigte eine Abschrift des Liedes an und nahm es mit in seine Heimat, das Zillertal. Dort gelangte das Lied an die Geschwister Strasser, und durch sie schließlich über Leipzig und Dresden zu Friedrich Wilhelm IV. an den preußischen Hof in Berlin. Da haben sich die Wege von Gruber und Mohr längst wieder getrennt.
Die Schifferkirche wird 1906 abgerissen
Die Schifferkirche in Oberndorf, in der „Stille Nacht“ 1818 zum ersten Mal erklingt, wird 1906 abgerissen. Auf dem Schuttberg, der von ihr übrig bleibt, wird von 1924 bis 1937 die „Stille-Nacht-Kapelle“ errichtet. Zu seinem 100. Geburtstag 1918 gilt das Lied endgültig nicht mehr nur als Weihnachtslied, sondern als völkerverbindende Friedenshymne. Denn es spielt auch eine Rolle im „Weihnachtsfrieden“ des ersten Kriegsjahres 1914. Hunderttausende deutsche, britische und französische Soldaten legen an Heiligabend ohne Befehl die Waffen nieder, spielen gemeinsam Fußball, feiern Feldgottesdienste und singen – so will es die Legende – „Stille Nacht“.
Bereits 1905 gibt es in den USA eine erste Schallplatte mit der englischen Fassung des Liedes, 1935 landet Bing Crosby mit seiner Einspielung einen der größten Hits seiner Karriere; bis heute hat sich die Single rund 30 Millionen mal verkauft. Weihnachten 1941 singen der amerikanische Präsident Franklin D. Roosevelt und der britische Premier Winston Churchill im Garten des Weißen Hauses gemeinsam mit vielen Menschen „Silent Night“. Mindestens dreimal wird die Geschichte des Liedes für das Kino verfilmt, 2011 wird es in die nationale Liste Österreichs des Immateriellen Kulturerbes der Unesco aufgenommen.
„Priester der Armen“ hinterlässt nur eine Gitarre
Zum 200-Jahr-Jubiläum fahren die Tourismus-Regionen Salzburger Land, Oberösterreich und Tirol ein touristisches Mammut-Programm mit einer „dezentralen Ausstellung“ an 13 „Stille-Nacht-Orten“, Konzerte, Besichtigungstouren und Themen-Märkten auf. In Oberdorf gibt es natürlich einen „Stille-Nacht-Shop“ mit Büchern, CDs, Kerzen und Krimskrams sowie „Stille-Nacht-Küssen“: drei Pralinen in der Pappschachtel mit der Kapelle im Bild für 4,90 Euro. An Grubers Grab singt an Heiligabend der örtliche Kinderchor.
Der Bayerische Rundfunk zeigt am 18. Dezember um 22 Uhr eine Musik-Doku zum Lied, in der internationale Stars von Joss Stone über Rolando Villazon bis zu den Wiener Sängerknaben das Lied vortragen.Von Joseph Mohr wird zu Lebzeiten kein Porträt gemalt. Als der „Priester der Armen“ 1848 stirbt, hinterlässt er nur einen einzigen irdischen Besitz: die Gitarre, auf der er zum ersten Mal „Stille Nacht“ gespielt hat.
Was Joseph Mohr und Franz Xaver Gruber für die armen Salzschiffer Oberndorfs in der Weihnachtsnacht 1818 aufführen, „eine einfache Komposition ohne Bedeutung“, ein ergreifend schlichtes Wiegenlied, singen heute an jedem Heiligabend weltweit rund 2,5 Milliarden Menschen in 300 Sprachen und Dialekten.