Conchita Wurst siegt beim ESC - Botschaft für Toleranz
Kopenhagen (dpa) - Österreich hat wieder eine Kaiserin. Sie trägt einen Bart. Mit dem pompösen Triumph von Conchita Wurst beim Eurovision Song Contest (ESC) in Kopenhagen feiert die Alpenrepublik 48 Jahre nach Udo Jürgens und „Merci Chérie“ erneut eine musikalische Thronbesteigung.
„Ich kann es nicht glauben, ich kann es nicht glauben“, haucht Wurst am frühen Sonntagmorgen in die Kameras und schlägt ihre Hände mit den künstlichen Fingernägeln zusammen. Quer durch Europa feiert man den Sieg der Dragqueen als Signal.
„Merci, Conchita“, titelt die Zeitung „Kurier“. Viele Nörgler in Conchitas Heimat sind nun stumm, der Coup der Dragqueen für mehr Toleranz bei Liebe und Lust gelungen. „Ist das lässig“, „wie geil das ist“ - der Kommentator im ORF ist aus dem Häuschen. „Ein schöner Tag für Österreich! Herzliche Gratulation!“ beglückwünscht auch Österreichs Bundespräsident Heinz Fischer den Travestiestar neben einem staatstragenden Foto im Internet. „Österreich schüttelt das Sisi-Image ab“, bilanziert TM News in Italien.
Von Anfang an hat sich der Transvestit in der Botschafter-Rolle gesehen. „Meine Mission ist dann erreicht, wenn wir nicht mehr darüber diskutieren müssen, wen wir lieben dürfen.“ Rückenwind bekam Conchita speziell im Netz. Mehr als 200 000 Facebook-Fans hat sie seit Beginn des ESC-Spektakels Anfang Mai dazugewonnen. Sie hat die Zahl der Follower auf Twitter binnen 48 Stunden auf 45 000 mehr als vervierfacht. Die deutsche ESC-Gewinnerin von 2010, Lena, wünschte via Facebook: „Herzlichen Glühstrumpf Conchita Wurst.“
Hätte er nicht die künstlichen Fingernägel, keinen hauptsächlich mit Kajal gemalten Bart, kein enges goldglitzerndes Abendkleid — der schwule Tom Neuwirth (25) wäre beim ESC nicht weiter aufgefallen. Doch als Dragqueen Conchita Wurst stieg er zur Symbolfigur für Akzeptanz auf und holte den ESC-Sieg gleich für ganz Europa: „Es klingt kitschig, aber am Ende sind wir alle eins“, sagt die Kunstfigur Conchita Wurst, als sie in der Nacht erste Interviews gibt. Da hat sie immer noch Tränen in den Augen.
Selten wurde beim ESC wohl so unabhängig vom Lied abgestimmt. Nicht, dass das an den Soundtrack eines Bond-Films erinnernde „Rise Like A Phoenix“ ein mieser Song wäre. Doch Wurst gewinnt nicht mit dem stärksten Lied, sondern mit der stärksten politischen Botschaft: Seid tolerant. Gegenüber Schwulen und Lesben und allen anderen Menschen, die so sein wollen wie sie sind. „Es gibt mehr als Schwarz und Weiß.“ Die Kandidatin war und ist selbst immer wieder herben Anfeindungen ausgesetzt. Am Ende stand aber für sie allein 13 Mal die Höchstwertung zwölf Punkte auf der Anzeigetafel.
Wie vielen der Triumph des Transvestiten und damit der Toleranz unter die Haut geht, zeigen die Reaktionen auf ihren Sieg. Einem Fan bricht fast die Stimme weg vor Rührung, als er Wurst - alias Tom Neuwirth, wie sie abseits der Bühne heißt - auf Englisch anspricht und sagt: „Hallo, meine Diva, meine Unglaubliche, mein Ein-und-alles!“
Conchita selbst hatte vor lauter Schluchzen erst gar nicht begriffen, dass sie gewonnen hatte. Da war klar: Die Niederlande mit ihrem schönen Country-Song schafften nur Platz zwei. Es war lange ein spannendes Kopf-an-Kopf-Rennen.
Nur für Österreichs Journalisten bleibt ein graues Wölkchen am ESC-Himmel. Ein bisschen beleidigt sind sie, dass Wurst sich so wenig patriotisch gibt. „Hast du das Gefühl, du hast für diese Haltung gewonnen, oder hast du auch für Österreich gewonnen?“, fragt einer. „Es geht um Menschenrechte, und die sind grenzenlos“, kontert sie.
Eisig bleibt in Kopenhagen die Stimmung gegenüber Russland. Die ESC-Gemeinde zeigt Moskau erst mit Buhrufen und dann bei der Punktevergabe die kalte Schulter. Im Flaggenmeer der Fans sind kaum russische auszumachen, die gelb-blauen aus der Ukraine umso sichtbarer. „Wir wollen uns hier zeigen“, sagt Anna Kudelia, die einen Blumenkranz im Haar trägt. Bei fast jedem Song tanzen und singen die Osteuropäer ausgelassen mit. Mit einer Ausnahme. Als die russischen Tolmatschewy-Zwillinge auftreten, sitzen die Ukrainer mit versteinerten Mienen da. Wie sie den russischen Fans begegnen? „Es sind dieses Jahr nur ganz wenige hier“, sagt Kudelia.
Der Goldglitzer auf dem Boden ist noch nicht weggefegt, da kündigen die Österreicher die nächste Party an. Die wird „glamourös“, verspricht Wurst, die nun einen Grammy in greifbarer Nähe sieht. „Wenn ich ihn mit 70 noch nicht habe, na gut - dann klaue ich ihn mir von jemandem.“ Ob sich dann noch jemand an die Diva und ihren Erweckungssong erinnert? Vielleicht bleibt Conchitas Botschaft länger hängen als ihr Song. Dem russischen Präsidenten Wladimir Putin machte Europas (Drag-)Queen jedenfalls eine klare Kampfansage: „Wir sind unaufhaltbar!“
Was zu denken gibt: Deutschland vergab an Wurst weniger Punkte (7) als es die Ukraine (8) tat.