Vom Spulen zum Skippen - Ende der Kassetten-Ära
München (dpa) - Mit Kassetten ist es wie mit alten Autos: Wer ihnen treubleibt, gilt als verklärter Romantiker. Der Tonträger Kassette hat bald ausgedient. Vernünftige Menschen verweigern sich ihr heute schon konsequent.
„Es ist wirklich rapide“, sagt Sprecher Andreas Leisdon vom Bundesverband Musikindustrie, wenn er die Absatzzahlen auspackt: 2,1 Millionen Musikkassetten - kurz MC - gingen 2010 über deutsche Tresen. 2001 waren es noch 30,8 Millionen.
Wer die Vorteile einer CD aufzählt, baut englische Begriffe ein. „Die CD ist viel einfacher im Handling“, erklärt Leisdon. Für ein ganz bestimmtes Lied muss man die Kassette mühsam spulen, abschätzen, stoppen, spulen, stoppen. Und irgendwann - die Finger sind schon wund - gibt der resignierte Spuler auf, akzeptiert, dass es das Schicksal des Kassetten-Fans ist, die erste Minute vom Lied zu verpassen. Bei der CD genügt ein kurzer Knopfdruck. Nicht spulen, sondern skippen, also überspringen, dann zurücklehnen und den Song entspannt von vorne bis hinten durchhören - das Ganze gilt natürlich gleichermaßen für den MP3-Musiktrack.
„Das digitale Geschäft ist enorm gewachsen“, sagt Leisdon. Ungefähr bis 1990 sei die Kassette mit der wichtigste Tonträger gewesen. „Ab dann ging es konstant abwärts.“ Nur noch 0,7 Prozent Umsatzanteil am Tonträgermarkt 2010 sprechen für sich. Deshalb hat jetzt auch das Kassetten-Ur-Label Europa seine Neuproduktion von Kassetten eingestellt. „Neue Policy“, sagt Arndt Seelig dazu. Er ist Senior Marketing Manager Family Entertainment bei Europa und damit unter anderem noch zuständig für die letzten Kassetten. „Es lohnt einfach nicht mehr. Letztendlich sind wir ja Kaufleute.“
Aber es gibt auch die andere Seite: Menschen mit einem Herzen fürs Analoge greifen unvernünftig ins mittlerweile schmal gewordene Kassettenregal - vorausgesetzt das Musikgeschäft hat noch eines. Wunde Finger, fehlende Song-Minuten und bei älteren Kassetten ein gewisses Leiern sind für die verklärten Romantiker Ehrensache.
Vor allem die Fans der Detektivserie „Die drei ???“ lieben die Kassette. Deshalb macht Europa bei ihrem Kassetten-Stopp auch eine kleine Ausnahme: „Die drei ???“-MCs bespielt das Münchner Label, das zum Sony-Konzern gehört, weiter - auch wenn es die Hörspiele mittlerweile natürlich längst auch auf CD gibt. „Weil die Kassette für Drei-Fragezeichen-Fans schon Kultcharakter hat“, erklärt Seelig. Diese spezielle Zielgruppe ist meist in den 80er Jahren im Kindesalter eingestiegen und kommt bis heute vom kantigen Plastik-Medium nicht los.
Ganz blind und verklärt ist Kassetten-Treue aber nicht. Ihrer digitalen Konkurrenz ist die MC in einigen Belangen sogar voraus, sagt Malte Köhne. Und der muss es wissen, schließlich betreibt er das Internetforum Hörspielland.de (www.hoerspielland.de). In deckenhohen Regalen reihen sich bei ihm zu Hause 6000 Kassetten in bunten Plastik-Palisaden aneinander. Ein Pluspunkt der Kassette ist für ihn: „Wenn sie hinfällt, ist sie nicht kaputt. Und wenn doch, dann kann man sie reparieren.“
Für die Kassette spricht außerdem der Faktor Zeit. Satte 90 Minuten Hörgenuss passen darauf, es gibt sogar welche mit 120 Minuten; CDs bringen es oft nur auf 80. Außerdem hört die Kassette nach der Hälfte automatisch mit einem lauten Klack auf. „Aber die CD läuft immer weiter, auch wenn man schon längst schläft“, führt Köhne an. Wer Köhne mit dem Spulproblem konfrontiert, hört die Geschichte von den ersten Hörspiel-CDs. „Da gab es nur einen Track, der 70 Minuten ging. Wenn man dann kurz vor dem Ende mal aus Versehen an den CD-Player kam, musste man wieder komplett zu der Stelle vorspulen“, erläutert Köhne.
Trotz der treuen Fans ist das Ende der Ära nicht aufzuhalten. „Ein paar Jahre werden wir die noch produzieren können, aber eben nicht für immer“, sagt Seelig. Ihr Untergang drehe sich in einer Art Abwärtsspirale: Weil die Nachfrage abnehme, gäben immer mehr Produktionsstätten für Magnetband und Kassetten-Rohlinge auf.
Auch der Absatz von Kassettendecks für Hifi-Anlagen ist so rapide gesunken, dass die Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) diese Zahlen gar nicht mehr erhebt. Aber immerhin werden pro Jahr rund 1,4 Millionen Radiorecorder verkauft, von denen etliche auch weiterhin mit Kassettenfach ausgestattet sind, wie es von der GfK heißt. Doch auch hier wächst die Anzahl der Geräte, die darauf verzichten und nur noch ein CD-Fach oder eine Dockingstation für iPod und MP3-Player haben.
Aber schließlich lässt sich der Kaufmann Seelig doch noch zu einem Funken Wehmut hinreißen: „Die Welt befindet sich im Wandel. Auch wir blicken da natürlich mit einem weinenden Auge drauf.“