Grabsteine: Was im Leben wichtig war
Grabsteine spiegeln den Trend zur Individualisierung. Das zeigt eine höchst ungewöhnliche Reise über die Friedhöfe im Land.
Düsseldorf. Der Friedhof ist ein Spiegelbild der Gesellschaft. Veränderungen im wirklichen Leben wie der Trend zur Individualisierung spiegeln sich dort wider. Das sagen die Soziologen Thorsten Benkel und Matthias Meitzler.
Die beiden haben etwa 500 der geschätzt 32 000 deutschen Friedhöfe besucht und dabei deren offenkundige Weiterentwicklung festgestellt. In einem gefühlvoll kommentierten Bildband geben sie zahlreiche Belege für ihre These.
Der Friedhof zeigt, was den Verstorbenen wichtig war und was die Hinterbliebenen daher in deren Sinne auf dem Grabstein betonen. Zwar dominieren immer noch christliche Symbole wie das Kreuz. Doch der gesellschaftliche Wandel, so sagen die Autoren, erreicht den Friedhof „und provoziert die Frage: Spielt Jesus nur noch die zweite Geige?“
Auch der Rückblick auf das vom Verstorbenen in seinem Leben Geleistete fällt zunehmend differenziert aus. Längst nicht mehr definieren die Hinterbliebenen den Verstorbenen nur über seinen Beruf. Zwar gibt es noch den Hinweis auf den Arzt oder Bäckermeister, dessen Wohltaten auf dem Grabstein hervorgehoben werden.
Oder auf den Friseur, dessen Lebensleistung durch die Gravur von überdimensioniertem Kamm und Schere symbolisiert wird. Doch immer häufiger als der Beruf ist es die Berufung, die da betont wird. Wie bei Heinrich, der, so steht es gemeißelt, mit Leib und Seele Platzwart bei seinem Sportverein war. Oder Hans-Dieter, dessen Leidenschaft durch das Abbild eines Anglers verewigt wurde.
Wir wissen, was derjenige, dessen Überreste da unter dem Grabstein liegen, besonders gern tat — symbolisiert durch eine Schachfigur, ein Kartenspiel, Dartpfeile, Rollschuhe, silberne Skier oder einen Fallschirm. Und da ist die eine, ganz große Leidenschaft von Hans Peter: die Rolling Stones, charakterisiert durch das Markenzeichen der Band, die ’rausgestreckte rote Zunge.
Solche Überraschungen, das bekennen die Soziologen, haben sie immer wieder begeistert, weil sie den Friedhof bunter und — so paradox das klingen mag — zu einem lebendigen Ort machen.
Da ist ein hoch aufragender Grabstein, auf dem Geburts- und Todesdatum sechs weitere Tage einrahmen, die im Leben des Verstorbenen eine bedeutende Rolle spielten: Einschulung, erste Liebe, DFB-Pokalgewinn des Lieblingsclubs, erste Heirat, Uefa-Cup-Gewinn, zweite Heirat. Wir alle spüren auf dem Friedhof die Unausweichlichkeit. Dies ist die Endstation, auch für einen selbst.
Doch ein Grabstein macht auch Mut: „Der ,Tod’ der Raupe“, heißt es dort, „ist die Geburt des Schmetterlings. Aber die Raupe ist nicht tot — sie hat sich nur verwandelt.“ Und da ist der Stein, auf dem ein QR-Code eingemeißelt ist, eine Matrix aus schwarzen und weißen Punkten, wie wir sie sonst auf Produktverpackungen gedruckt finden und hinter der sich codierte Daten verstecken.
Dem Friedhofsbesucher, der mit seinem Smartphone diesen QR-Code (quick response = schnelle Antwort) scannt, werden via Internet viele weitere Informationen über den Verstorbenen versprochen. Wer war er? Wie war er? Weniger über den toten Friedrich als viel mehr über dessen Eltern und deren übersteigerte Selbsteinschätzung erfährt der Betrachter dieses Grabes: „Er war guter Eltern Sohn“.
Sehr viel sympathischer dagegen der „Inhaber“ des Grabsteins, dessen Inschrift der Sammlung ihren Titel gab. In formvollendeter Manier über den Tod hinaus bittet Uwe, der Hausherr der Gruft, den Betrachter in goldenen Lettern um Verständnis: „Gestatten Sie, dass ich liegen bleibe“.
Das hat Stil. Das inspirierende Buch ist eine Einladung, selbst wachen Auges hin und wieder Spaziergänge auf dem Friedhof zu unternehmen und sich Gedanken darüber zu machen, was eines Tages auf dem eigenen Grabstein stehen könnte oder soll. Die Autoren stiften uns an: „Halten Sie Ausschau nach den Spiegelungen des Lebens an diesem vermeintlichen Ort des Todes, der in Wahrheit von den Lebenden und für die Lebenden errichtet worden ist.“