„Ich spüre die Not körperlich“

Auch vier Jahre nach dem verheerenden Tsunami betreut der Aachener Pfarrer Uwe Rieske Hinterbliebene.

Aachen. Manchmal wird es selbst Uwe Rieske zu viel. Dann ringt er mit den Tränen und hadert mit Gott. Der zweite Weihnachtsfeiertag 2006 war so ein Tag.

Zwei Jahre nach dem verheerenden Tsunami im Indischen Ozean, der mehr als 200.000 Menschen das Leben kostete, saß der evangelische Pfarrer mit einem deutschen Ehepaar an einem Hotelpool im thailändischen Khao Lak.

"Der Vater zog ein Bild seines getöteten Kindes aus der Tasche", erinnert sich der 47-Jährige. Stumm schauten sie auf das Foto. In so einer Situation seien Worte fehl am Platz.

Uwe Rieske war Koordinator des Projekts "Hoffen bis zuletzt", mit dem die Evangelische Notfallseelsorge und das Deutsche Rote Kreuz Betroffenen und Hinterbliebenen seelische und organisatorische Unterstützung leistete. Im Oktober 2006 lief es aus.

Doch einen Schlussstrich konnte der Aachener Kirchenhistoriker nicht ziehen. "Die Netzwerke bestehen weiter, denn der Bedarf nach Begleitung ist bei den Angehörigen auch vier Jahre nach dem Tsunami sehr groß", erzählt Rieske.

Deshalb verbringt der Seelsorger gemeinsam mit vier Kollegen und mehr als zwei Dutzend Hinterbliebenen die Weihnachtstage in Thailand. Tausende Kilometer entfernt von seiner Ehefrau und den drei Söhnen.

"Das ist natürlich nicht leicht für mich und meine Familie", sagt der 47-Jährige leise. Denn statt Kinderlachen und Weihnachtsstimmung erlebt er unfassbare Trauer.

"Aber die Menschen dorthin zu begleiten - das ist für mich eine Form von Reichtum. Was immer man dort auch an Leid erträgt: Man bekommt es von den Hinterbliebenen als positives Echo tausendfach zurück."

537 Deutsche starben an diesem Morgen vor vier Jahren - Männer, Frauen und Kinder. Rund 600 Familienmitglieder suchten seither Hilfe bei dem Projekt "Hoffen bis zuletzt", dessen Titel auch Programm ist. Wochen, Monate, in einigen Fällen sogar Jahre dauerte die Identifizierung der Toten.

"13 Deutsche wurden bis heute nicht gefunden", berichtet Rieske. "Das ist für die Angehörigen besonders grausam." Denn die Gewissheit sei ungeheuer wichtig. Rieske: "Mein Opa wird seit Januar 1945 im Krieg vermisst. Meine Oma ist nie darüber hinweggekommen."

Deshalb versteht er die Gefühle eines Vaters aus Nordrhein-Westfalen, dessen Sohn seit dem Tsunami verschollen ist. "Die Trauerarbeit ist sehr mühsam. Der Vater ist dieses Jahr das erste Mal in der Verfassung, nach Thailand zu reisen."

2007 war das einzige Jahr, in dem das Projektteam nicht geflogen ist, erzählt Rieske. Anschließend habe er von dem deutschen Pfarrer in Bangkok erfahren, dass eine Mutter ihr Baby habe taufen lassen - an der Stelle, an der die Familie ihren ersten Sohn verloren hatte.

"Das hat mir gezeigt, dass wir nicht aufhören können", so Rieske. Auch von den Betreuern seien viele dabei geblieben.

Zum Glück, denn ein Großteil der Hinterbliebenen braucht weiter Hilfe. "In unseren Gruppen waren Leute, die sehr stabil waren. Aber einige haben seitdem nicht mehr Fuß gefasst." Wie ein Unternehmer, der auf Ko Phi Phi schwer verletzt wurde.

"Er konnte nicht mehr arbeiten, verlor seine Firma, lebt jetzt von Hartz IV", so der 47-Jährige. Einige Betroffene befinden sich noch in einem intensiven Trauerprozess. "Sie sind kaum belastbar und reagieren deshalb oft aggressiv." Obwohl Rieske inzwischen an einer Mädchenschule in Bonn arbeitet, nimmt er sich Zeit für die "behutsame Begleitung".

Besonders wichtig ist der Jahrestag. "Wir richten uns da ganz nach den Angehörigen." Das Bedürfnis sei groß, nicht allein an die Orte gehen zu müssen, wo die Liebsten den Tod fanden. Heiligabend, am ersten und zweiten Feiertag gebe es einen Gottesdienst.

Gemeinsam trauern Betreuer und Opfer auch in Khao Lak an einem von Thyssen-Krupp gestifteten Mahnmal. Angehörige bringen kleine Tafeln zum Gedenken an die Toten an.

Viel Kraft kostet Rieske und sein Team die Trauma-Nachsorge. "Ich spüre die Not körperlich. In Gesprächen kann ich den Hinterbliebenen aber helfen, sie besser auszuhalten." Jeder Einsatz lasse ihn reifen. "Indem ich das Leid mit aushalte, bringt es mir und den Betroffenen etwas. Auch das ist mein Reichtum."

Leicht fällt Rieske der Umgang mit Tod und Trauer nicht. "Man muss das Spiel von Nähe und Distanz einhalten, sich stets vergegenwärtigen, dass man selbst nicht betroffen ist." Natürlich gebe es Momente, da lasse auch er seinen Tränen freien Lauf. Etwa, wenn es um das Schicksal von Kindern geht.

"Dann gehe ich ins Gespräch mit Gott und sage, es ist unfair." Es sei noch einmal eine ganz andere Betroffenheit, wenn das Kind im gleichen Alter sei wie das eigene. In solchen Situationen ziehen sich die Betreuer zurück, gehen gemeinsam essen, um auf andere Gedanken zu kommen.

Doch Rieske bereut nicht, das Projekt übernommen zu haben. "Von meinen unterschiedlichen beruflichen Stationen hat mich dieses Projekt am nachhaltigsten geprägt. Hier kann ich etwas sehr Sinnvolles tun." Nun wisse er, warum er Pfarrer geworden sei.