Ingo Schulze: „Vereinigung“ war nur ein Beitritt
Berlin (dpa) - Der Berliner Autor Ingo Schulze (51) gilt als einer der wichtigsten Chronisten deutsch-deutscher Geschichte.
Vor allem sein Erzählband „Simple Storys“ (1998) gab nach dem Fall der Mauer sensibel Einblick in das Leben der Menschen im Osten. Geboren in Dresden, lebte der Autor und Dramaturg damals im thüringischen Altenburg. Während der Friedlichen Revolution war in Leipzig. Im dpa-Interview erinnert er sich an den Umbruch vor 25 Jahren.
Frage: Wie haben Sie den 9. November 1989 erlebt?
Antwort: Das war einer der wenigen Tage, an denen ich früh ins Bett bin. Und als ich aufwachte, war die Mauer weg. Mein erster Gedanke war: Jetzt fahren die alle in den Westen, statt zu unserer Demo zu kommen. Natürlich ist der Mauerfall die große Zäsur, aber wichtig war, was diese Zäsur ermöglicht hat, nämlich die Demonstrationen in vielen Städten des Landes. Insofern war für mich der 9. Oktober in Leipzig noch wichtiger als der 9. November. Eines der ersten Plakate in Leipzig lautete „Visafrei bis Shanghai“. Es ging von Anfang an um die Öffnung zur Welt — in alle Himmelsrichtungen!
Frage: Welche Erwartungen, vielleicht Hoffnungen haben Sie damals mit der Öffnung verbunden?
Antwort: Im November 89 war das einer von vielen Schritten zur Demokratisierung des Landes. Das war spektakulär, aber spektakulär war ja alles in dieser Zeit. Die Grenzöffnung der Ungarn war auch ein Mauerfall gewesen. Und dass wir demonstrieren konnten, Zeitungen herausgaben, uns organisierten und begannen, unsere Betriebsleiter und Professoren zu wählen — das gehörte alles zusammen. Und wer hätte damals je daran gedacht, dass das Recht auf Arbeit still und heimlich bald gestrichen werden würde?
Frage: Ist die Deutsche Einheit nach 25 Jahren wirklich geglückt?
Antwort: Leider war es ja keine Vereinigung, sondern nur ein Beitritt. Der Beitritt ist geglückt, es gibt keine Separationsbestrebungen wie in vielen anderen Ländern. Eine Vereinigung wäre selbstverständlich besser gewesen, mühsamer, hätte sich aber in jedem Fall gelohnt und sogar ausgezahlt. Der Osten steht auch nach 25 Jahren nicht auf eigenen Beinen.
Frage: Auch für die alte Bundesrepublik war der Mauerfall eine Chance zur Veränderung — wurde sie genügend genutzt?
Antwort: Dafür hätte es eben einer Vereinigung bedurft. Die alte Bundesrepublik, der Westen insgesamt, fühlte sich als Sieger und verhielt sich dementsprechend. In Deutschland verlief das vergleichsweise moderat und komfortabel, vergleichsweise! Aber die Chance, tatsächlich zu prüfen, was im Osten an Strukturen und Besitzverhältnissen, an Gesetzen und Praktiken zukunftsfähig war und dem Westen überlegen, das gab es nicht. Stattdessen begann eine Ökonomisierung ungekannten Ausmaßes, unter der auch der Westen mehr und mehr preisgibt, was ihn ausmachte.
Frage: Was bedeutete die Wende für die Schriftsteller der einstigen DDR?
Antwort: Mein erstes Buch erschien erst 1995, insofern bin ich da eher Beobachter als direkt betroffen. Es ist auch schwer, das generell zu beantworten. Der Umbruch von 89/90 war ein Wechsel von Abhängigkeiten und auch ein Wechsel von Freiheiten. Das begreiflich zu machen, hat die Literatur einen großen und eigenen Anteil.
Frage: Was wünschen Sie sich für die Zukunft der Stasi-Unterlagenbehörde?
Antwort: Dass sie wenigstens für die Zeit bis 1990 um die BND-Unterlagenbehörde erweitert wird.
Frage: Im Jubiläumsjahr erscheinen erneut zahlreiche Bücher zur Umbruchzeit 1989/90. Gibt es immer noch Themen, die nicht genügend aufgearbeitet sind?
Antwort: Wir haben noch gar nicht wirklich begriffen, was 1989/1990 bedeutet. Das fällt deshalb auch so schwer, weil damals viele Selbstverständlichkeiten von heute entstanden sind. Und Selbstverständlichkeiten wären keine, wenn sie bewusst wahrgenommen würden, es sei denn, man stellt sie in Frage. Das geht los bei den Besitzverhältnissen, den Selbstverständlichkeiten der Ökonomisierung, überhaupt der vorgeblichen Alternativlosigkeit unseres heutigen Tuns und Lassens. Der Anspruch des Herbstes 89, dass es um das Glück der ganzen Gesellschaft geht, wurde, wie alles andere auch, ins Private zurückgestoßen, sozusagen wieder privatisiert in eine Geschichte des persönlichen Aufstiegs, statt die gesellschaftliche Veränderung zu betreiben.
Frage: Woran arbeiten Sie gerade? Wird es noch einmal einen sogenannten „ultimativen Wenderoman“ von Ingo Schulze geben?
Antwort: Ich finde das Wort Wende falsch, und es kam auch vom falschen Akteur, also von Egon Krenz, und deshalb mag ich auch nicht den Begriff Wenderoman. Deshalb wäre ich nicht sehr glücklich, wenn ein Buch, das meine bisherige Lebenszeit umspannt, dann so etikettiert werden würde. So ein Buch wäre auch der Versuch, unsere Selbstverständlichkeiten als etwas Gewordenes, Gemachtes darzustellen.
ZUR PERSON: Ingo Schulze, geboren 1962 in Dresden, studierte Klassische Philologie in Jena. Nach Stationen als Dramaturg und Journalist in Altenburg und einem längeren Aufenthalt in St. Petersburg lebt er seit 1993 als Freier Autor in Berlin. Zu seinen Werken gehören die Erzählbände „33 Augenblicke des Glücks“ (1995) und „Simple Storys“ (1998) sowie die Romane „Neue Leben“ (2005) und „Adam und Evelyn“ (2008). Schulze erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter 2007 den Preis der Leipziger Buchmesse.