Japan hebt Fukushima auf Tschernobyl-Stufe
Tokio/Wien (dpa) - Fukushima und Tschernobyl werden künftig in einem Atemzug genannt. Japan hat die Strahlengefahr nach seinem Atomunfall am Dienstag genauso hoch eingestuft wie bei der ukrainischen Reaktorkatastrophe vor 25 Jahren.
Die Atomaufsicht in Tokio hob die Einschätzung aller Auswirkungen des Unglücks am Dienstag von Stufe 5 auf die höchste Gefahrenstufe 7 an.
Die Katastrophe gilt damit als ebenso schwer wie der gravierende Reaktorunfall von Tschernobyl, dessen Folgen noch heute in Europa messbar sind. Es gibt jedoch auch Experten, die der japanischen Einschätzung widersprechen. So ist die Gefahr, die von den japanischen Reaktoren ausgeht, aus Sicht der Internationalen Atomenergie-Behörde IAEA nicht so groß wie in der Sowjetunion 1986.
Gut vier Wochen nach dem Beginn der Katastrophe stoppten am Dienstag erneut starke Nachbeben kurzzeitig die Arbeit der Einsatzkräfte am AKW Fukushima Eins. Auch ein Brand an einer elektrischen Schaltanlage in der Nähe des Kühlwasserauslaufs für die Blöcke 1 bis 4 machte Probleme, konnte jedoch gelöscht werden.
Die höchste Warnstufe auf der sogenannten INES-Skala wurde bisher nur nach dem Super-Gau am Atomkraftwerk in Tschernobyl 1986 erreicht. Bis jetzt seien in Fukushima zwar erst zehn Prozent der radioaktiven Materialien von Tschernobyl freigesetzt worden, hieß es. Die Gefahren-Einschätzung der japanischen Experten bezieht sich jedoch auf die gesamten, auch künftigen Folgen.
Am Ende könnte in Fukushima sogar noch mehr Radioaktivität entweichen als damals in der Ukraine, meldete die Nachrichtenagentur Kyodo unter Berufung auf den Betreiber Tepco. Tepco-Chef Masataka Shimizu entschuldigte sich daraufhin in einer Pressemitteilung bei der Bevölkerung für die Sorgen und Unannehmlichkeiten: Tepco werde sich weiterhin bemühen, „so schnell wie möglich“ die Reaktoren zu kühlen und die Ausbreitung radioaktiver Partikel zu verhindern.
Der Leiter des Lehrstuhls für Reaktorsicherheit und -technik an der RWTH Aachen, Professor Hans-Josef Allelein, ist dennoch weiter der Ansicht, dass der Unfall im Nordosten Japans noch nicht ganz so gefährlich ist wie Tschernobyl.
Er und andere Fachleute weisen auf einen großen Unterschied hin: 1986 habe es in der Ukraine - anders als in Japan - eine heftige Explosion gegeben, die das radioaktive Material hoch in die Atmosphäre geschleudert habe. „Mit der unschönen Konsequenz, dass wir verhältnismäßig hohe Werte auch über Europa weit verstreut gemessen haben und teilweise immer noch messen.“
In Japan seien dagegen noch rund 90 Prozent der radioaktiven Stoffe in den Anlagen und könnten vielleicht größtenteils sicher eingeschlossen werden, sagte Allelein. Möglicherweise rechnet die japanische Regierung jedoch nicht mehr mit dieser Möglichkeit und setzte die Gefahrenstufe deshalb hinauf.
Die Anhebung auf die INES-Gefahrenstufe 7 („Schwerste Freisetzung“) bedeutet, dass es Auswirkungen auf Gesundheit und Umwelt in einem weiten Umfeld gibt. Japan hatte vor diesem Schritt lange gezögert, den einige Experten schon früher gefordert hatten.
Horst May von der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit sieht anders als der RWTH-Professor Allelein alle Kriterien für Warnstufe 7 inzwischen erfüllt: „Nur über mögliche gesundheitliche Spätschäden lässt sich noch nichts sagen.“ Zu diesem Schluss kommt auch das Bundesamt für Strahlenschutz in einer Mitteilung.
Die IAEA hält die Gefahren, die von Fukushima ausgehen, für deutlich geringer als nach dem Unglück von Tschernobyl. Die zuerst angegebene Einstufung sei eine provisorische Angabe der japanischen Behörden gewesen, sagte IAEA-Experte Denis Flory in Wien. Die Höherstufung habe keine Auswirkungen auf den Umgang mit dem Unfall.
Die INES-Skala sei lediglich ein Instrument, um die Tragweite eines Unfalles zu kommunizieren. Die Einstufung geschehe unabhängig von nötigen Aktionen wie Evakuierungen oder gesundheitlichen Maßnahmen, sagte Flory. Mit bestimmten Stufen seien keine bestimmten Schritte verbunden.
Japans Regierungschef Naoto Kan sah am Dienstag auch Fortschritte im Kampf gegen einen möglichen Super-Gau. Die Lage im havarierten Atomkraftwerk Fukushima Eins „stabilisiert sich Schritt für Schritt“, sagte Kan. Er bekräftigte, es gebe keine Pläne, die japanischen Atomkraftwerke sofort abzuschalten. Nach der Anhebung der Gefahrenstufe hatte die Börse in Tokio deutlich nachgegeben.
Bereits am Vortag hatte die japanische Regierung Evakuierungen außerhalb des bisherigen 20-Kilometer-Sperrkreises angeordnet.
Teile des Landes wurden am Dienstag erneut von zwei starken Nachbeben ab Stärke 6 erschüttert. Sie brachten wieder Häuser in Tokio ins Wanken.
Die Männer im Atomkraftwerk Fukushima Eins wurden aufgefordert, sich in Sicherheit zu bringen. Die Arbeit der Pumpen, die die überhitzten Brennstäbe kühlen, wurde aber nach Angaben des Betreibers Tepco nicht unterbrochen. Seit dem Beben der Stärke 9,0 vor gut einem Monat gab es Hunderte Nachbeben.
Derweil versuchen Arbeiter in Fukushima weiter, die Atomruine unter Kontrolle zu bringen. Am Dienstag mussten sie einen Brand in einem Schaltschrank mit Batterien löschen. Wie die Agentur Kyodo unter Berufung auf Tepco meldete, hatte ein Arbeiter das Feuer bemerkt. Die Radioaktivität in der Nähe sei deshalb aber nicht gestiegen. Die Ursache des Feuers war unklar.
Die verhängte höchste Gefahrenstufe ist für die philippinische Regierung Anlass für Evakuierungsflüge. Sie will rund 2000 Landsleute, die im Umkreis von 100 Kilometern um das beschädigte Atomkraftwerk leben, nach Hause fliegen. Andere Länder folgten dem zunächst nicht. Auch das Auswärtige Amt in Berlin verschärfte seine Reisewarnung nicht. Derzeit gilt eine teilweise Reisewarnung für Japan, die die Regionen Fukushima und Umgebung betrifft.