Katastrophe für Wissenschaft
Unglück gefährdet Projekte sowie Diplom- und Doktorarbeiten an Universitäten.
Köln. Welche Folgen der Zusammenbruch des Kölner Stadtarchivs für die Wissenschaft allgemein und auch für einzelne Wissenschaftler im Besonderen hat, ist derzeit noch gar nicht absehbar.
Doch für Professor Norbert Finzsch, geschäftsführender Direktor des Historischen Seminars der Universität Köln, ist jetzt schon klar: "Das ist eine Katastrophe von internationalem Ausmaß." Das Kölner Stadtarchiv sei "das bedeutendste städtische Archiv nördlich der Alpen, und auch europaweit kommt da nur noch Rom mit".
Günstigstenfalls rund 40 Prozent der unersetzlichen Archivalien werden nach ersten vorsichtigen Experten-Schätzungen halbwegs unbeschädigt aus den Trümmern geborgen werden können. Sie dann erneut wissenschaftlich korrekt zu archivieren und die entstandenen Lücken zumindest teilweise zu überbrücken, wird wohl mindestens 30Jahre dauern - eine ganze Generation.
Das Unglück hat jedoch auch unmittelbare tragische Auswirkung auf zahlreiche einzelne Akademiker. Finzsch: "Ich weiß derzeit von mehreren Dissertationen allein an unserem Historischen Seminar, die jetzt gefährdet sind." Finzsch schätzt die Anzahl der betroffenen Doktorarbeiten an den insgesamt 18Lehrstühlen des Seminars auf "um die 20".
Hinzu komme möglicherweise eine noch unbekannte Zahl von Geschichtswissenschaftlern, die derzeit mit Materialien aus dem Stadtarchiv an ihrer Habilitationsschrift arbeiten - dem wichtigen Schritt, um auf eine Professur berufen zu werden.
Aber auch zahlreiche historische Projekte sind betroffen, wie etwa am Lehrstuhl von Professor Hans-Peter Ullmann die Untersuchung "Kölner Familien im Nationalsozialismus", betreut von der wissenschaftlichen Mitarbeiterin Serpil Hengeöz, die gleichzeitig über das Thema ihre Doktorarbeit schreibt.
Einige dieser Dissertationen, Habilitationen und Projekte, die alle eine Arbeitszeit von jeweils mehreren Jahren bedingen, sind durch den Zusammenbruch des Archivs möglicherweise unrettbar verloren, weil sie nicht mehr fertiggestellt werden können. Professor Finzsch: "Ein Großteil des Materials ist zwar auf Mikrofilm aufgenommen, aber das ist leider kein vollwertiger Ersatz für die Original-Archivalien."
Die Filme helfen insbesondere in jenen Fällen nicht weiter, in denen für die wissenschaftliche Untersuchung eine sogenannte Quellenkritik erforderlich ist: Etwa die äußeren Merkmale einer Urkunde wie beispielsweise Material oder Zustand von Siegeln.
In der kommenden Woche will Finzsch für das Historische Seminar der Universität mit einer Bestandsaufnahme beginnen, wieviele wissenschaftliche Arbeiten exakt betroffen sind - und ob und wie einzelne Arbeiten gegebenenfalls noch zu retten sind. Finzsch: "Das gilt aber natürlich nur für unser Seminar. Das ist zwar mit einem geschätzten Anteil von 50 Prozent wichtigster Nutzer des Stadtarchivs, aber die andere Hälfte sind Nutzer aus aller Welt - bis in die Vereinigten Staaten."
Auch Finzsch selbst gehört zu den wissenschaftlichen Opfern des Stadtarchiv-Unglücks. Er und seine Mitarbeiter hatten bereits vor mehr als zwei Jahren bei der Deutschen Forschungsgesellschaft (DFG) ein Projekt beantragt, aus dem Stadtarchiv rund 10.000 Bürgertestamente vom Spätmittelalter bis in die Neuzeit digital und in Farbe zu erfassen. Kosten: rund 400.000 Euro pro Jahr.
Finzsch: "Wenn wir damals sofort die Genehmigung bekommen hätten, wären wir jetzt schon fertig gewesen." Nun aber steckt die Arbeit noch in der Anfangsphase und wird wohl nie vollendet werden können.