Lippenleserin Julia Probst hängt an Jogis Mund
Die Lippenleserin sieht im TV, was Löw und Co. bei der EM so alles von sich geben — und schreibt darüber im Internet.
Düsseldorf. Seit Bundestrainer Joachim Löw von Julia „Jule“ Probst weiß, beißt er sich auf die Lippen.
Denn die 30-Jährige hat es sich zum Hobby gemacht, der Welt zu erzählen, was der Bundestrainer und seine Elf bei der Europameisterschaft so alles über den Stadionrasen brüllen.
Das weiß sie nicht etwa, weil sie dabei ist. Die Schwäbin ist von Geburt an gehörlos und besitzt eine besondere Fähigkeit: Sie kann von den Lippen lesen.
Und was sie da erfährt, ist häufig kurz und deftig. „Hoch Lukas“, „Mensch Thomas, sowas zu verschenken“ und „Ey, los“ sind Formulierungen, die dem Bundestrainer bei verpassten Torchancen über die Lippen kommen — neben diversen Schimpfworten.
Julia Probst veröffentlicht diese Beiträge unter dem Namen „@EinAugenschmaus“ beim Kurznachrichtendienst Twitter und in einem Blog. Inzwischen ist sie eine Internet-Berühmtheit, der bei Twitter mehr als 19 000 Leser folgen.
Auf die Lippenleserin angesprochen, gelobte Jogi Löw prompt Mäßigung: „Da sind schon einige deftige Flüche über meine Lippen gekommen.“ Er werde sich „wahrscheinlich ein bisschen hüten müssen in Zukunft“.
Eine Reaktion des Bundestrainers — das habe sie total überrascht, schreibt Julia Probst im E-Mail-Interview. Sie versichert, dass sie nur aufschreibt, was sie einwandfrei erkennen kann. Beim Spiel Deutschland — Dänemark schrieb sie etwa: „Mario, mach’ zu, sagte Schweini grad“ oder „Lahm gratulierte Bender mit: Klasse gemacht!“.
Doch auch Probst kann nicht überall Mäuschen spielen. Bei der Frauen-WM 2011 habe ihr Großvater nach einem Gefühlsausbruch des brasilianischen Coaches neugierig gedrängt: „Was sagte er?“ Probst musste ihn enttäuschen: „Opa, ich kann doch kein Portugiesisch.“
Angefangen hat der Lippenlese-Service per Zufall bei der Weltmeisterschaft 2010. „Ey, für alles gibt es Gelb“, meckerte Jogi Löw bei der Partie gegen Serbien. Probst twitterte den Satz sogleich und erntete so viele dankbare Reaktionen von wissbegierigen Fußballfans, dass sie beschloss, von da an alle Länderspiele und Meisterschaften zu begleiten. 2011 wurde sie dafür mit dem begehrten Szenepreis „Blogger des Jahres“ ausgezeichnet.
Ihre Berühmtheit nutzt sie, um auf die Benachteiligung von Gehörlosen im Alltag aufmerksam zu machen. Dass die Neujahrsansprache der Kanzlerin in diesem Jahr erstmals auf dem Sender Phoenix in Gebärdensprache übersetzt wurde, soll ihrem Einsatz zu verdanken sein.