Matrosenanzug: Ausdruck des Militarismus und modisches Stück
Kiel (dpa) - Der Urgroßvater hat vom Matrosenanzug erzählt. Und Unmengen dunkler Schwarzweiß-Fotos streng dreinblickender Kinder aus der Kaiserzeit zeigen ihn. Was war der Marinelook: purer Ausdruck wilhelminischen Flottenwahns oder bequeme Jugendkleidung?
Kiel (dpa) - Der Urgroßvater hat vom Matrosenanzug erzählt. Und Unmengen dunkler Schwarzweiß-Fotos streng dreinblickender Kinder aus der Kaiserzeit zeigen ihn. Was war der Marinelook: purer Ausdruck wilhelminischen Flottenwahns oder bequeme Jugendkleidung?
Die Kinder des Kaisers und der junge Willy Brandt haben ihn getragen, wie Millionen Jungen in ganz Deutschland: den Matrosenanzug. Wie die Flottenbegeisterung von Wilhelm II. kam auch die maritime Mode aus England. Queen Victoria machte ihrem deutschen Enkel Wilhelm 1862 ein Geschenk, das nicht nur den damals erst drei Jahre alten Prinzen prägen sollte. Unter ihm als Kaiser Wilhelm II. wurde der für damalige Verhältnisse bequeme Uniform-Look zur beherrschenden Kindermode. Für Generationen.
Nachdem die Begeisterung bei Adel und Oberschicht nicht mehr aufzuhalten war, machte der Stuttgarter Kaufmann Wilhelm Bleyle das blau-weiße Outfit massentauglich. Sein maschinell gestrickter Anzug war günstig, hielt lange und galt als gesund - er war der erste für das gemeine junge Volk.
„In Deutschland ist die damalige Konjunktur des Matrosenanzugs eindeutig verknüpft mit der wilhelminischen Marinebegeisterung, die für ein erstarkendes nationales Selbstbewusstsein und das Streben nach „Weltgeltung“ stand“, sagt Timo Heimerdinger, Professor für Europäische Ethnologie in Innsbruck. „Einer breit angelegten Propaganda-Initiative ist es damals gelungen, den Matrosenanzug zu popularisieren und ihn so zu einer Ikone zu machen“, erklärt der Volkskundler.
Dabei habe sich der Matrosenanzug „aus dem rein militärischen Kontext gelöst“ - und sei so „auch zum Ausdruck von Freiheit und Jugendlichkeit“ geworden. „Dazu kommen Komponenten wie Erotik, Exotik, Mut, Abenteuerlust, Entdeckerfreude, Kraft und ein androgyn schimmerndes Männlichkeitsbild.“
So finde der Anzug „unendlich viele Anwendungen in Film, Musik, Literatur, Comics und sogar als Reklame für Brausepulver“. In jedem Knaben mit Matrosenanzug einen national gesinnten, potenziellen Marinesoldaten zu sehen, wäre zu weit gegriffen, betont der Wissenschaftler.
Heimerdinger hat sich in seiner Dissertation über das Bild des Matrosen seit 1844 auch intensiv mit dem maritimen Look beschäftigt. Verfasst hat Heimerdinger seine Arbeit passenderweise in Kiel, denn von dort trat die Kluft ihren beispiellosen Siegeszug an.
Vor Bleyles Massenproduktion wurden die einst edlen Einzelanfertigungen aus bestem Tuch vor allem in Kiel geschneidert, seit 1871 „Reichskriegshafen“ der neuen Kaiserlichen Marine. So hieß der Matrosenanzug auch lange „Kieler Bluse“ oder „Kieler Anzug“.
„Er war Turnerkleid und patriotischer Gesinnungsausweis, Identifikationsobjekt mit dem Heldentum der „blauen Jungs“, textiler Ausdruck einer neuen großen Freiheit und nicht zuletzt Vorbild für die Marinemode der Erwachsenen“, heißt es auch in dem Buch „Der Matrosenanzug - Kulturgeschichte eines Kleidungsstücks“ von Robert Kuhn und Bernd Kreutz. Eine Fülle alter Schwarzweiß-Fotos darin zeigt spätere Prominente als Schüler in dem Kleidungsstück, etwa Erich Kästner und Karl Carstens, Willy Millowitsch und Beate Uhse, Henri Nannen und Heinz Rühmann.
Was heute düster wirkt, war vor hundert Jahren Ausdruck von Modernität: „Die Marinerüstung galt als Speerspitze des technischen Fortschritts“, betont Heimerdinger. Dabei überwand die Mode Standes- und Geschlechtergrenzen, das Matrosenkleid wurde zum weiblichen Pendant des Anzugs. Fontanes „Effi Briest“ trägt den breiten Matrosenkragen als Ausdruck von Natürlichkeit und Lebenslust. Und auch den adligen Knaben Tadzio schmückt ein Matrosenanzug in der von Luchino Visconti später so eindrucksvoll verfilmten Novelle „Der Tod in Venedig“ von Thomas Mann, entstanden kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs.
Nach der Niederlage und dem rebellischen Treiben der Kieler Matrosen blieb er weiter in Mode, auch wenn es einen Einbruch gab, wie der Volkskundler Walter Hävernick vor mehr als 50 Jahren beschrieb.
Die Nationalsozialisten gaben dem Matrosenanzug einen schweren Stoß, sie schmähten ihn als bürgerlich-reaktionär. Mit der uniformierten Gleichschaltung der Hitler-Jugend kam sein Ende als Massenphänomen, nicht nur in Deutschland. Das hat auch sein berühmtester Träger nicht ändern können, der Enterich Donald Duck. Der hatte seinen Auftritt im Juni 1934 als Bewohner eines hölzernen Hausbootes in dem Kurzfilm „The Wise Little Hen“, nur im blauen Oberteil und ohne Hose.
Heute werden im Norden Deutschlands keine Matrosenanzüge mehr gefertigt, zumindest wissen die zuständigen Verbände nichts davon. „Maßanfertigungen wie früher sind aber freilich noch immer möglich“, heißt es bei der Landesinnung des modeschaffenden Handwerks Schleswig Holstein mit werbendem Unterton.
Manchmal taucht er wieder auf: Die Wiener Sängerknaben tragen traditionell Matrosenanzug. Auch Moderatorin Sonya Kraus tat es - 2012 beim „TV-Total-Turmspringen“.
Auch wer „Matrosenanzug“ und „Made in Germany“ googelt, wird fündig. Da geht es jedoch nicht um imperiale Größe oder luftig-praktische Kinderkleidung. Das Angebot zeigt ein Latex-Modell für die Anhänger von Fetischmode - für stolze 414 Euro.