Menschen des Jahres: Von Dörte Hansen bis Sam Smith

Berlin (dpa) - Eine unbekannte Autorin, die einen Bestseller landet; ein Künstler, der endlich auf die internationale Bühne zurückkehrt; eine Sängerin, die herausfinden will, wer sie eigentlich ist: Kultur-Menschen, die im Jahr 2015 Schlagzeilen machten.

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DÖRTE HANSEN - Von der Suche nach Heimat

„Eher hätte ich einen Sechser im Lotto erwartet“, sagte Dörte Hansen. Ihr Debütroman „Altes Land“ katapultierte die bis dahin unbekannte Norddeutsche, 1964 in Husum geboren, über Monate in die Bestsellerlisten, war der Überraschungserfolg des Bücherjahres. Den Traum, ein Buch zu schreiben, hatte sie schon länger. „Als ich auf die Fünfzig zuging, dachte ich: Jetzt oder nie!“, erinnerte sie sich. Das Ergebnis nannte Literaturkritiker Denis Scheck „ein tolles Debüt“. Die Zutaten: Flucht, Suche nach Heimat und das Leben auf dem Land. Dort, im Alten Land bei Hamburg, lebt die Autorin auch selbst. Ihr zweites Buch soll in Nordfriesland spielen.

FRANK WITZEL - 1000 Seiten und ein unaussprechlicher Titel

Als Frank Witzel im Oktober den Deutschen Buchpreis erhielt, zeigte er sich generös: Sein Buch dürfe man ab nun einfach „Die Erfindung“ nennen, sagte er verschmitzt. Mit seinem 1000-Seiten-Roman „Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969“ war der Offenbacher als krasser Außenseiter ins Rennen gegangen - und siegte. Aus der Sicht eines Heranwachsenden schildert Witzel, Jahrgang 1955, die Atmosphäre und den Geruch der alten Bundesrepublik. Die Auszeichnung bescherte ihm neue Erfahrungen: „Davor war mein Leben recht ereignislos, und ich saß am Schreibtisch“, resümierte er in einem Interview. „Jetzt bin ich dauernd unterwegs.“

SEBASTIAN SCHIPPER - Filmexperiment in Echtzeit

Es ist eines der ungewöhnlichsten Filmexperimente des Jahres: Sebastian Schippers Berlin-Abenteuer „Victoria“ wurde über 140 Minuten in einer einzigen Einstellung gedreht. Kein Schnitt, keine Pause. Beim Deutschen Filmpreis gab es sechs Lolas für den Echtzeit-Thriller, darunter die Goldene Lola für den besten Film. Frederick Lau und Laia Costa wurden als beste Darsteller gekürt. In drei Hauptkategorien wurde „Victoria“ dann auch für den Europäischen Filmpreis nominiert. Nur die Aufstellung als deutscher Beitrag für den Auslands-Oscar verpasste Schipper (47) - aus formalen Gründen: In „Victoria“ wird zu viel Englisch gesprochen.

JELLA HAASE - Mehr als nur Chantal

Als prollige Chantal in den Mega-Erfolgen „Fack Ju Göhte“ und „Fack Ju Göhte 2“ hat Jella Haase Kultstatus erlangt. In eine Schublade möchte sie aber nicht gesteckt werden. „Die Komödie war eher ein Ausflug“, sagte die 1992 geborene Schauspielerin. Eigentlich fühlt sie sich in düsteren Genres eher zu Hause. Für ihre Rollen in „Kriegerin“ über die deutsche Neonazi-Szene und dem Selbstfindungs-Film „Lollipop Monster“ wurde sie mit dem Bayerischen Filmpreis als beste Nachwuchsdarstellerin ausgezeichnet, im „Tatort“ mit dem Titel „Puppenspieler“ verkörperte sie 2013 eine minderjährige Hure. Im Dezember stand der Kinostart ihres neuen Films „4 Könige“ an, ab 2016 ist sie Teil des neuen „Tatort“-Teams von Dresden.

DAKOTA JOHNSON - Durchbruch mit Sado-Maso

Große Augen, Pferdeschwanz, sinnliche, rote Lippen: Perfekt verkörperte Dakota Johnson (26) im Sado-Maso-Blockbuster „Fifty Shades of Grey“ die schüchterne und unbedarfte Studentin Anastasia Steele. Die Tochter der Hollywoodstars Melanie Griffith und Don Johnson soll auch in Teil zwei („Fifty Shades Darker“) wieder dabei sein. Als „Presenter“ durfte sie auf der Oscar-Bühne beim Verteilen der Trophäen helfen, beim Filmfest Venedig war sie in Luca Guadagninos „A Bigger Splash“ an der Seite von Tilda Swinton und Ralph Fiennes zu sehen.

AI WEIWEI - Zurück auf der internationalen Bühne

Die Fotos von ihm und seinem kleinen Sohn, der ihn auf dem Münchner Flughafen begrüßt, gingen um die Welt: Der chinesische Künstler Ai Weiwei (58) durfte im August nach einem mehrjährigen Ausreiseverbot erstmals sein Land wieder verlassen. Seine erste Reise führte ihn nach Deutschland. Hier sorgte er mit umstrittenen Äußerungen zur Verhaftung unschuldiger Menschen in China prompt für Irritationen. Manche warfen ihm einen Kurswechsel vor. „Ich will nicht so verstanden werden, dass ich für das Regime spreche“, konterte Ai. Ende Oktober trat er eine dreijährige Einstein-Gastprofessur an der Universität der Künste in Berlin an.

SWETLANA ALEXIJEWITSCH - Eine mutige Stimme

Der Literaturnobelpreis als politisches Signal: Mit der Weißrussin Swetlana Alexijewitsch (67) ehrte das Komitee eine mutige Chronistin des Leids der Menschen in der zerfallenden Sowjetunion. Als ihr Großwerk gilt „Secondhand-Zeit“ - eine Stimmencollage über die erschütternden Erfahrungen des kommunistischen Experiments. Im autoritären Regime ihrer Heimat findet sie kein Gehör, lebte lange im Ausland, ehe sie 2011 nach Minsk zurückkehrte. Nun kam selbst Weißrusslands umstrittener Präsident Alexander Lukaschenko nicht umhin, ihr zu gratulieren.

KIRILL PETRENKO - Überflieger am Dirigentenpult

Losgehen soll es erst 2019 - dennoch zählt der russische Dirigent Kirill Petrenko (43) zu den großen Gewinnern des Jahres. In vier Jahren übernimmt er als Chefdirigent der Berliner Philharmoniker einen der wichtigsten Posten in der Welt der klassischen Musik. Der aus Sibirien stammende Maestro wurde im Juni gewählt, nachdem eine erste geheime Wahl der Philharmoniker im Mai noch ohne Ergebnis geblieben war. Petrenko tritt in die Fußstapfen von legendären Philharmoniker-Chefs wie Wilhelm Furtwängler oder Herbert von Karajan. „Man kann es gar nicht in Worte fassen, was in mir gefühlsmäßig vorgeht“, sagte er.

HELGE ACHENBACH - Sturzflug aus dem Jetset in den Knast

Sechs Jahre Gefängnis, 20 Millionen Euro Schadenersatz, das Firmenimperium zusammengebrochen, 2400 Kunstwerke zwangsversteigert: Der Sturzflug des prominenten Düsseldorfer Kunstberaters Helge Achenbach (63) könnte kaum steiler sein. Unter Tränen legte der selbsternannte „Hans im Glück“ ein Teilgeständnis vor Gericht ab. Im März wurde er wegen Millionenbetrugs an reichen Kunden verurteilt. Im Gefängnis singt Achenbach inzwischen im Chor, lernt Malen, trägt Essen aus und putzt Toiletten. Noch ist das Urteil nicht rechtskräftig. Achenbach aber lässt sich nicht unterkriegen: „Ich komme schon zurück“, sagte er im TV-Interview im Knast.

SARAH CONNOR - Gelungener Imagewechsel

Sie verdient den Titel für den gelungensten Imagewechsel: Sarah Connor (35) wollte nach turbulenten Jahren im Musikbusiness und Millionen verkaufter Platten herausfinden, „wer ich ohne diesen ganzen Pop-Zirkus eigentlich bin“. Die dreifache Mutter besuchte Philosophie-Vorlesungen, hörte Joni Mitchell und Bob Dylan. Im Frühjahr das Comeback mit ihrem ersten deutschsprachigen Album. „Muttersprache“ landete auf Platz eins der Charts. Im Herbst überraschte Connor erneut, als bekannt wurde, dass sie eine syrische Flüchtlingsfamilie in ihrem Berliner Haus einquartiert hat. „Ich maße mir nicht an, ein Vorbild zu sein“, sagte sie.

SAM SMITH - Filmgeschichte mit Bond-Song

Vom Newcomer zum Superstar: Es war das Jahr des Sam Smith. Bei den Grammy-Awards im Februar räumte der Brite gleich vier Auszeichnungen ab und schwärmte vom „besten Abend meines Lebens“. Sein gefühlvolles Lied „Stay With Me“ wurde als bester Song ausgezeichnet. Im Herbst schrieb der 23-Jährige dann Filmgeschichte. Sein Titelsong „Writing’s on the Wall“ für den 007-Film „Spectre“ ist der erste Bond-Song überhaupt, der auf Platz eins der UK-Charts landete. Zwischenzeitlich ging Smith auf Welttournee und unterzog sich noch einer erfolgreichen Stimmband-Operation. Einziges Problem im Erfolgsjahr: Das Privatleben kam zu kurz. Nun will sich Smith eine Auszeit für die Liebe nehmen.

HARPER LEE - Bestseller nach 55 Jahren

Die 89-jährige Autorin war fast schon in Vergessenheit geraten. Mit „Wer die Nachtigall stört“ über Rassismus in den Südstaaten der USA hatte sie 1960 einen weltweiten Bestseller gelandet. Dann zog sich die Schriftstellerin in ihre Heimat Alabama zurück. 2015 schließlich das Sensations-Comeback mit „Gehe hin, stelle einen Wächter“, eigentlich ein altes Manuskript. Das Buch stürmte die Bestsellerlisten - und es schockierte Fans, denn eine Hauptfigur, einst das moralische Gewissen der USA, entpuppte sich als Rassist. Und die Literaturwelt rätselt: Wollte die fast 90-Jährige wirklich, dass dieser Roman veröffentlicht wird?

MISTY COPELAND - Das Ballett hat einen neuen Star

Erst im Alter von 13 Jahren fing sie mit Ballett an - da sind andere schon zehn Jahre dabei. Doch schon zwei Jahre später gewann sie Preise - und sie ist schwarz. In der von europäisch- und asiatischstämmigen Künstlern geprägten Welt der klassischen Musik ist das etwas Besonderes. Im Juni wurde sie als erste Schwarze Primaballerina des American Ballet Theatre in New York. Filmemacher Nelson George drehte einen Film über sie: „A Ballerina's Tale“. Für das Magazin „Time“ war sie sogar einer der 100 einflussreichsten Menschen der Welt. Das Ballett hat einen Star - und ist plötzlich wieder Tagesgespräch in den USA.