Missgeschicke und kalte Füße - Ein Tag als Glühweinverkäufer
Dortmund (dpa) - Der erste Härtetest am Glühweinstand ist eine Rechenaufgabe. „Wenn Dir jemand vier Tassen zurückgibt und fünf neue Tassen Glühwein kauft, was muss er dann mit Pfand bezahlen?“ Hektisches Rattern im Kopf: „Zwölf Euro!
“ - „Glückwunsch, du hast den Job.“
Endlich hat sich das ungeliebte Kopfrechnen in der Schule doch noch ausgezahlt. Was der Lehrer einem damals nicht beigebracht hat: Wie man Lumumba richtig mixt. Wie man eine störrische Zapfanlage austrickst. Und wie man Glühweinflecken aus heller Kleidung herausbekommt.
Ein Tag als Glühweinverkäuferin - die Schicht des Selbstversuchs beginnt in der zweistöckigen Almhütte auf dem oberen Marktplatz in Dortmund. Wenige Meter entfernt ragt ein monströser Weihnachtsbaum in die Höhe, der aus unzähligen Weihnachtsbäumen zusammengebaut ist. Dicke goldene Weihnachtskugeln baumeln vom Dach der Hütte, kleine Lichter blinken in den an der Wand festgesteckten Tannenzweigen.
Drinnen duftet es nach Glühwein und Kakao - die perfekte Weihnachtsatmosphäre. Irgendetwas fehlt aber. Kein „Jingle Bells“, kein „Leise rieselt der Schnee“ und noch nicht einmal ein einziges „Last Christmas“ klingt durch die vom Nieselregen trübe Luft. „Wir wollten keine Kirmes aus dem Weihnachtsmarkt machen“, sagt Ilse Wendler, Chefin des Hauses, eine zierliche Frau mit zurückgestrichenen dunklen Haaren.
Stattdessen tönt das Gemurmel der vielen redseligen Weihnachtsmarktbesucher in der Almhütte. „Manchmal träume ich nachts davon“, sagt Martina, die ihren Nachnamen nicht in der Zeitung lesen will, und eilt zur schmalen Holztheke vor. Die blonde 49-Jährige trägt eine steife Lederschürze um die Hüfte. Gemeinsam mit ihrer Chefin und ihrem Kollegen Frank bildet sie das Thekenteam in der zweiten Etage.
Es wird plötzlich hektisch, ein Schwall Bestellungen kommt auf einmal. Es stellt sich als Kunst heraus, auf dem glatten getäfelten Boden nicht auszurutschen. Sogar die ausgelegte Gummimatte hat sich mit Glühwein und Wasser vollgesogen. Zu viert steht sich jeder in dem wenige Quadratmeter großen Thekenraum gegenseitig auf den Füßen.
Wie mischt man noch einmal einen Pharisäer? Der Glühwein zapft sich dagegen wie von selbst. Doch auch er bringt bei der nächsten Bestellung kein Glück: Zu hektisch am Hebel gezogen, spritzt aus der wummernden Maschine ein rot-weißer Schaum über die ganze Theke - auch auf den durstigen Gast mit grau-meliertem Haar und heller Winterjacke. Ein verschämtes Lächeln, eine kurze Entschuldigung, dann weiter. Die Finger sind klebrig-kalt.
Ein junges Pärchen mit niederländischem Akzent beugt sich über den Tresen: „Zwei Lumumba, bitte!“ Den Kakao speit die Maschine auf Knopfdruck aus. Aber gehörte in den Lumumba wirklich Rum? „Nein, den machen wir mit Mariacron“, sagt Frank, schüttelt den Kopf und grinst.
Jäh herrscht vor dem Tresen gähnende Leere. Trotz Heizstrahler fangen die Füße langsam an, in den nicht allzu winterfesten Stiefeln zu frieren. „Wenn's richtig voll ist, haben wir hier manchmal keine Zeit, auf die Toilette zu gehen“, sagt Martina. Voll ist es, wenn Borussia Dortmund spielt. Oder wenn der WDR ein Fest auf dem Platz veranstaltet. „Heute ist es nicht voll.“ Rund 60 Leute stehen in der oberen Etage der Almhütte an hohen Tische und auf den beiden Balkonen, in deren hölzerne Brüstungen Herzen eingeschnitzt sind.
Eine Stunde später gibt es das erste Trinkgeld. Ein glänzendes Zwei-Euro-Stück von einem freundlichen Herrn um die 50, der aus Versehen zehn Euro zu viel für seine Bestellung bezahlt und sie prompt zurückbekommen hatte. „Für die Ehrlichkeit.“ Er lächelt und verschwindet gen Ausgang.
Währenddessen hat sich Thekenmann Frank die nächste Prüfung für angehende Glühweinverkäufer ausgedacht: „Jetzt wollen wir doch mal sehen, wie viele Tassen du auf einmal tragen kannst.“ Das ernüchternde Ergebnis: Sechs leere, höchstens vier volle herzförmige Tassen mit Christbaumkugelmotiv. Während Frank mühelos zehn der knallroten Tassen balanciert und sie neben der Spüle abstellt, blinkt die Spülmaschine. Als er die Tür öffnet, dringt aus dem quadratischen Gerät ein stickiger Dampf. Er riecht nach Eierpunsch und Seife.
Langsam leert sich die Hütte. Von den Balkonen verziehen sich die meisten Weihnachtsmarktbesucher ins etwas wärmere Innere. Gegen 21.15 Uhr scheucht Frank auch die letzten Gäste nach drinnen und schließt die Türen. Eine kichernde Mädchengruppe nippt noch eine Weile in einer Ecke an ihren heißen Getränken.
Nach fünf Stunden krampfen die Waden. Martina lässt Spülwasser in das Edelstahl-Becken und schrubbt mit einem Lappen über die Thekenflächen. Die runden Stehtische aus Massivholz sind mit kleinen roten Flecken übersät. Sie mit dem nassen Schwamm aus dem stumpfen Holz herauszuwischen, dauert. Dann ist Feierabend.
Der penetrante Geruch von Eierpunsch verschwindet auch mit viel Wasser und Seife nicht von den Fingern. Auf dem Heimweg wachen die fröstelnden Füße auf. Das monotone Menschengemurmel hängt noch in den Ohren, als die blinkenden Lichter des Weihnachtsmarkts schon weit entfernt sind. Irgendwo dort draußen stehen jetzt wohl noch zwei leicht beschwipste niederländische Touristen und trinken Lumumba. Und ein älterer Herr versucht in dieser Minute womöglich erfolglos, die Glühweinspritzer aus seiner beigen Winterjacke zu waschen.