Münsters Momente der Stille

Am Tag nach der Amokfahrt trauern Menschen und Politiker in Münster am Kiepenkerl um zwei Todesopfer und viele Verletzte. Eine Tat, die Fragen aufwirft.

Münster. Am Tag danach ist das ärgste Chaos in Münster beseitigt. Geblieben ist die Fassungslosigkeit. Der große und der kleine Kiepenkerl, die zwei stadtbekannten Traditionshäuser mit der jeweilig goldenen Aufschrift am unteren Ende der Altstadt, die ein zentraler Anziehungspunkt der Stadt sind, bleiben geschlossen. Beide Häuser, von zwei Familien getrennt betrieben, liegen im 90 Grad-Winkel zueinander, haben einen gemeinsamen Vorplatz, auf dem der Täter Jens R. im VW-Bus California zwei Menschen das Leben genommen, vier schwer und 16 weitere Menschen leichter verletzt und sich anschließend selbst gerichtet hat. Nur der helle Sand auf dem Kopfsteinpflaster zeugt von der Tatstelle, das Chaos von zerstörten Stühlen und Tischen ist vom Abfallwirtschaftsbetrieb in der Nacht beseitigt worden.

Am bronzenen Kiepenkerl-Denkmal, das einen umherziehenden Händler mit „Kiepe“ — einer Rückentrage aus Holz und Korb — zeigt und vom Tatfahrzeug fast gestreift worden sein muss, sind Blumen niedergelegt. Trauerkerzen stehen neben einem handbeschriebenen Pappschild: „Warum?“ Es ist die zentrale Frage, die die besonnene und blühende Studenten- und Beamtenstadt Münster mit ihren 310 000 Einwohnern beschäftigt.

Martin Stracke, Vorsitzender der Interessengemeinschaft Kiepenkerl-Viertel

Foto: dpa

Warum reißt ein psychisch labiler Selbstmörder unschuldige Opfer mit in den Tod? Warum hier, in der so genannten „guten Stube“, die bei Sonnenschein so viele Menschen angelockt hatte. „Es war der erste sonnige Tag. Die Mitarbeiter sind alle geschockt. Die Gasthäuser bleiben so lange geschlossen, bis die Mitarbeiter sich wieder imstande sehen, hier zu arbeiten“, sagt Rechtsanwalt Martin Stracke, Vorsitzender der Interessensgemeinschaft Kiepenkerl-Viertel. „Es ist alles so sinnlos.“

Die Anwohner wurden am Samstagabend evakuiert, lange waren Tatmotiv und Täter nicht bekannt. Von geflohenen Mittätern war die Rede. Davon ist nichts übrig geblieben. Als gestern Mittag Polizeipräsident Hajo Kuhlisch und die leitende Oberstaatsanwältin Elke Adomeit am Tatort, 250 Meter unterhalb des bekannten Prinzipalmarkts mit seinen Wiedertäuferkäfigen an der Lambertikirche und den aufgereihten Giebelhäusern entfernt, informieren, ist die Rede vom Einzeltäter. Nichts deute „auf einen politischen Hintergrund“ hin. Ein Passant regt sich auf, dass nicht „früher unterrichtet wurde“. Das Viertel habe in Angst gelebt, sagt der Mann. Aber er wird schnell von einer Welle umhüllt, die Verständnis für polizeiliche Ermittlungen transportiert: Der Tathergang hat noch junge Vorbilder in der Welt, Nizza, Berlin. Wer mag da vorschnell Entwarnung geben?

Die Politiker, die bei 23 Grad gestern Vormittag nach Münster gekommen sind, loben den „professionellen Einsatz“ von Polizei und Hilfskräften. NRW-Ministerpräsident Armin Laschet, Bundesinnenminister Horst Seehofer, NRW-Innenminister Herbert Reul legen Blumen am Kiepenkerl nieder, lassen sich von Polizeikräften den Tatort weisen, sprechen im Polizeipräsidium mit Verantwortlichen und stellen sich hunderten von Journalisten. Es ist ein Zeigen. Mitgefühl transportieren. Verantwortung beweisen.

Viele Journalisten sind aus dem Ausland gekommen. Wohl zuerst aufgeschreckt von ersten Verdachtsmomenten, die auf Terror hindeuteten. Bewahrheitet hat sich das nicht in der Stadt des CDU-Oberbürgermeisters Markus Lewe, die der einzige Wahlkreis in Deutschland war, in dem die AfD bei der vergangenen Bundestagswahl im September 2017 weniger als fünf Prozent der Stimmen erhielt. Viele sind noch heute in Münster stolz darauf. Was ist politisch zu tun nach dieser Tat? „Der Innenminister hat zugesagt zu prüfen, was man gerade vor dem Katholikentag im Mai hier in Münster noch machen kann“, sagt Laschet. Und: „Eines ist klar: Wenn Menschen sich versammeln, wird nie absolute Sicherheit herstellbar sein. Aber wir wollen uns unser Leben auch nicht durch Sicherheitsmaßnahmen einschränken lassen. Das ist genau die Abwägung, die man treffen muss.“ Immer wieder. Auf dem Schlossplatz sollen zu jenem Katholikentag Poller zum Schutz aufgestellt werden. Aber in der engen Innenstadt?

Beeindruckt sind Laschet und Seehofer von der Besonnenheit der Bürger in Münster. Laschet kritisierte später aber auch diejenigen Nutzer sozialer Netzwerke, die dort kurz nach der Tat „das Hetzen“ begonnen hätten. Die Solidarität der Münsteraner ist groß: Mehr als 300 Menschen waren spontan am Samstagabend zum Blutspenden gekommen, viele wurden wieder fortgeschickt, weil es genug war. Gestern Abend kommen Hunderte in den Gedenkgottesdienst in den Dom am Domplatz. Auch die „Medien haben besonnen reagiert“, lobt Seehofer. Er meint: Kaum vorschnelle Urteile und Vermutungen. Es wurde berichtet, was man wusste. Nicht mehr. Meistens.

Laschet erzählt im kleinen Kreis, dass er im „kleinen Kiepenkerl“ selbst des Öfteren zu Gast gewesen sei. Auch Kanzlerin Angela Merkel hatte sich im Traditionshaus bei Wahlkampfterminen schon bewirten lassen, Fotos von der Kanzlerin im abgesperrten Innern zeugen davon.

Die Ermittlungen laufen. Täter Jens R. aus Münster wird in Augenschein genommen, die Polizeiakte gibt vier Verfahren aus 2015 und 2016 her, Delikte wie Betrug, Fahrerflucht, auch Bedrohung. Alle Verfahren wurden eingestellt. „Über die Inhalte müssen wir uns noch ein Bild machen“, sagt die Oberstaatsanwältin. Auffällig: Der 48-Jährige, der aus Olsberg im Sauerland stammt, soll vier Wohnungen unterhalten haben, zwei im Osten der Republik, zwei in Münster. Alle Durchsuchungen hätten keine Hinweise auf eine politische Tat ergeben, sagt Polizeipräsident Kuhlisch. In Ermittlungskreisen heißt es, der Täter habe in einem Abschiedsbrief von „persönlichem Frust“ geschrieben, womöglich aber habe er doch Kontakte in die rechte Szene gehabt. Sicher ist, dass der Fall von Münster und der Umgang mit einer anderen als der islamistischen Bedrohung auch die NRW-Innenpolitik künftig noch sehr viel stärker befassen wird.

Am Nachmittag wird es ruhiger am Kiepenkerl. Immer wieder blicken Einheimische und Touristen am Tatort vorbei. Nur die Zeit wird die Wunden heilen. Und was wird aus Münster? „Münster, bleib wie Du warst“, schreibt Tatort-Kommissar Axel Prahl alias „Thiel“ am Samstag auf Facebook. Und er schreibt: „Und wie wir dich lieben: offen, friedlich, freundlich, stark und stolz.“