Flüchtlinge Nach der Flucht ist nicht Schluss

Minderjährige Flüchtlinge werden auf alle Jugendämter in NRW verteilt. Das soll Kommunen entlasten. Kritiker sagen, das gehe auf Kosten der Kinder.

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Wuppertal/Sprockhövel. Bassam ist 17 Jahre alt. Er ist aus Syrien nach Deutschland geflohen. Ohne seine Eltern. Nur mit seinen Brüdern. Per Flugzeug, Boot und weite Strecken zu Fuß — oft ohne Schlaf und Pausen. „Es musste schnell gehen, wir hatten Angst, dass die Grenzen geschlossen werden“, sagt der Junge, dessen Namen wir geändert haben, um ihn und seine Familie zu schützen. Bassam hat es geschafft. Er ist in Sicherheit und einer von etwa 330 minderjährigen, unbegleiteten Flüchtlingen, die in Wuppertal untergebracht sind.

Was für ihn Sicherheit bedeutet, ist für die Stadt eine Ausnahmesituation. Mit den hohen Zahlen ist die Stadt „extrem gefordert“, sagt Jugendamtsleiter Dieter Verst. Anfang des Jahres gab es in Wuppertal etwa 100 minderjährige Flüchtlinge. Seitdem hat sich die Zahl mehr als verdreifacht. Und die Stadt muss damit umgehen und den Jugendlichen eine jugendhilfegerechte Unterbringung ermöglichen — sie also genauso versorgen wie andere Jugendliche in ihrer Obhut. Das sei aber nicht so leicht, sagt Verst, denn diese Flüchtlinge müssten neben 600 Wuppertaler Jugendlichen, die sowieso schon fremduntergebracht werden müssen, noch Plätze finden. „Die Jugendgruppen platzen aus allen Nähten“, sagt Verst.

Wuppertal ist eine von sieben Städten in NRW, die damit zu kämpfen haben. Auch Aachen, Bielefeld, Bochum, Dortmund, Düsseldorf und Köln haben einen Löwenanteil der Minderjährigen aufgenommen, die in NRW angekommen sind — bisher 53 Prozent.

Ein neues Bundesgesetz soll seit dem 1. November Abhilfe schaffen. Seitdem sollen die Jugendlichen nach dem Königsteiner Schlüssel auf die Länder verteilt werden und in den Ländern auf alle Kommunen. Ein Landesgesetz gibt es noch nicht. Verteilt wird aber schon. In NRW werden alle 186 Jugendämter eingebunden. Das Ziel, so NRW-Jugendministerin Christina Kampmann, sei eine gerechtere Verteilung der Aufgaben.

Viola Wessler, Jugendamt Wuppertal

Aktuell, sagt Viola Wessler, Fachreferentin beim Jugendamt Wuppertal, könnten die Jugendlichen in den sieben Knotenpunkten nicht mehr angemessen versorgt werden. „Im Moment schafft es keine Stadt, nicht an den Standards zu drehen.“ In den kleineren Kommunen habe man dagegen noch Kapazitäten.

Sicher ist das nicht. Sprockhövel beispielsweise, eine kleine Stadt von 25 000 Einwohnern im Ennepe-Ruhr-Kreis, könne zusätzliche Jugendliche alleine gar nicht tragen, sagt die Leiterin des Jugendamts, Ilse Crefeld. Die Stadt verfüge selbst nicht über eine stationäre Jugendeinrichtung. Auch die „Personalkapazitäten für eine fachliche Betreuung können wir in unserem Haus nicht erfüllen.“ Im Moment arbeite man daran, Lösungen für die Aufnahme der jugendlichen Flüchtlinge zu finden. Etwa durch die Kooperation mit freien Trägern und den Nachbarkommunen. Crefeld sieht die Lage nicht als katastrophal. Eine Herausforderung sei es aber schon. Gerade wegen der Ungewissheit, wann und wie viele Jugendliche nach Sprockhövel kommen. „Dass wir gut vorbereitet sind, könnte ich nur sagen, wenn ich wüsste worauf“.

Niels Espenhorst vom Bundesfachverband Unbegleitete Minderjährige Flüchtlinge aus Berlin fasst die Lage zusammen: „Auf die Entlastung einer Kommune folgt die Belastung einer anderen.“ Er sieht Schwierigkeiten bei der Umverteilung, weil den kleinen Kommunen die Erfahrung mit den Bedürfnissen der traumatisierten Jugendlichen fehle. Zudem gelte bei den Jugendlichen das „Wildgänse-Prinzip“: „Ihr erster Betreuer ist wahnsinnig wichtig für sie“, sagt Espenhorst. Sie nach wenigen Wochen weiterzuschicken, könne sehr belastend sein.

Die Umverteilung generell sei unstrittig, sagt Espenhorst. Nur das Tempo und die fehlende Unterstützung für die Kommunen kritisiert er. „Es kann nicht sein, dass das so Hals über Kopf passiert.“ Es müssten vor allem Fachkräfte eingestellt und Betreuungsplätze geschaffen werden.

Zudem würden die Flüchtlingszahlen jetzt zurückgehen und die Fälle, die vor dem 1. November angekommen seien, in der Obhut der Kommunen bleiben, in der sie ursprünglich aufgenommen wurden. Die aktuelle Belastung der Jugendämter bleibt also bestehen. In Wuppertal betrifft das 303 Jugendliche. Bassam ist einer davon.