BGH verhindert Räumung Neue Hoffnung für gekündigte 97-jährige Mieterin
Karlsruhe/München (dpa) - Das Haus, in dem Anna U. auch noch die letzten Jahre ihres langen Lebens verbringen möchte, sieht nach außen hin friedlich aus. Gelber Anstrich, gepflegte Balkone, im Erdgeschoss ein Bäcker, ein Orthopädie-Geschäft, ein Lotto-Laden.
Irgendwo hinter den Fenstern im vierten Stock muss das Bett stehen, das die 97-Jährige wegen ihrer Demenz nicht mehr verlassen kann.
Vor mehr als sechs Jahrzehnten, 1955, ist Anna U. als junge Ehefrau hier eingezogen. Und hätte sicher nicht im Traum daran gedacht, dass sie eines Tages im Mittelpunkt eines erbitterten Mietstreits steht, der am Ende sogar den Bundesgerichtshof (BGH) beschäftigt. Persönlich trifft Frau U. keine Schuld. Trotzdem liegt ihr Schicksal in den Händen von Richtern - auch nach dem Karlsruher Urteil vom Mittwoch.
Denn Anna U., heute verwitwet, soll aus ihrer Drei-Zimmer-Wohnung im Münchner Stadtteil Schwabing ausziehen. Die Vermieterin hat ihr fristlos gekündigt. Eigentlich hatte das Landgericht die Räumung für spätestens Ende April 2016 angeordnet. Einzig die Revision zum BGH hat den Gang der Dinge noch aufgehalten. Also eine Gnadenfrist.
Es ist eine Entscheidung, bei der man nicht in der Haut der Richter stecken möchte. Denn da ist noch Anna U.'s Betreuer und Pfleger, und das macht die Sache überhaupt erst so kompliziert.
Er ist zur Verhandlung nach Karlsruhe gekommen, ein schmächtiger Mann Anfang vierzig in Jeanskluft und Cowboystiefeln, die langen schwarzen Haare zusammengebunden. Seit 2000 wohnt er bei Anna U. nebenan, in einer kleinen Wohnung, die sie und ihr Mann in den 60er Jahren gemietet hatten. Die alte Frau sei für ihn wie eine Großmutter und auch fast wie ein Kind, sagt er. Die Ärzte und die Behörden finden, er pflegt sie gut, das haben die Gerichte so festgehalten.
„Das ist die eine Seite - und dann gibt es noch die andere Seite“, sagt die Vorsitzende BGH-Richterin Karin Milger. Der Streit beginnt spätestens 2010. Die Vermieterin will mehr Geld, es geht auch um Ruhestörung und ein Fahrrad, das unzulässigerweise im Hausflur steht.
Anna U.'s Pfleger reagiert schriftlich - und es sind böse E-Mails und Briefe. „HAUT AB ihr feindlseliges pakt“, schreibt der gebürtige Iraker im April 2015, als es um das Fahrrad geht. Die Vermieterin, die in der Oberpfalz lebt, schickt mehrere Kündigungsschreiben, dabei bleibt es zunächst. Bis dann am 1. Mai 2015 eine neue E-Mail das Fass zum Überlaufen bringt. Darin werden Vermieterin und Hausverwalter als „sehr feindselige und sehr gefährliche terroristen“ sowie als fremdenfeindlich beschimpft. Sie würden „mindestens im knast“ landen, schrieb der Mann.
Sechs Tage später klagt die Vermieterin auf Räumung der beiden Wohnungen. „Es geht nur um den Pfleger“, sagt ihre Anwältin Nadia Hildel. Ihre Mandantin fühle sich bedroht. Eine dritte Wohnung, die sie noch in dem Haus besitze, traue sie sich nicht mehr zu betreten.
„Was soll ein Vermieter sich hier noch zumuten?“, fragt Anwalt Herbert Geisler in Richtung Richterbank, der den Fall vor dem BGH vertritt. „Die Frau kann drinbleiben, um die Frau geht es nicht.“
„Wie soll das gehen?“, fragt die Senatsvorsitzende Milger zurück. Schließlich seien die beiden Mietverhältnisse miteinander verzahnt.
Das Amtsgericht München war deshalb der Auffassung gewesen, dass Anna U. und ihr Betreuer bleiben dürfen. Die alte Frau könne nichts dafür, und ein Umzug oder ein neuer Pfleger seien ihr nicht mehr zuzumuten. Das Berufungsgericht sah das im Januar anders. Die Beleidigungen seien so erheblich, dass sie die fristlose Kündigung rechtfertigten. Frau U. könne nur versuchen, sich gegen die Zwangsräumung zu wehren.
Aber so einfach geht es nicht, entscheiden die BGH-Richter. Gerade wenn ein Leben in Gefahr sei, müsse das Gericht die Interessen beider Seiten umfassend gegeneinander abwägen - und das sei nicht passiert. Vor allem braucht es demnach ein ärztliches Gutachten zu Anna U.'s gesundheitlicher Verfassung. Auf dieser Grundlage muss dann das Landgericht ein zweites Mal entscheiden. Bis es soweit ist, dürfen Frau U. und ihr Pfleger bleiben. Es gibt also eine neue Gnadenfrist.