Neues Geläut: Der Klang von Notre-Dame
Nach mehr als 200 Jahren verfügt die Pariser Kathedrale wieder über ein komplettes Geläut. Die neuen Glocken wurden in der Normandie und den Niederlanden gegossen.
Paris. Die Freude steht Paul Bergamo ins Gesicht geschrieben. Als die neuen Prachtglocken von Notre-Dame am Samstag um 18 Uhr endlich wieder in vollem Geläut jauchzend und jubilierend den silbergrauen Pariser Himmel erfüllen, genießt der Chef der normannischen Glockengießerei die Früchte seines filigranen Handwerks.
Mit ihm werden Zehntausende am Vorabend von Palmsonntag Zeugen eines Jahrhundertereignisses: Denn nach mehr als 200 Jahren sind die beiden Türme der anmutigen gotischen Kathedrale wieder voller Glocken. Genauso wie im berühmten Roman von Victor Hugo, der seinen Helden Quasimodo, den berühmten Glöckner von Notre-Dame, auf ihnen tanzen ließ.
Es ist eine gelungene Premiere. Und eine anrührende, sagt Bergamo ergriffen. Ein unbeschreibliches Glücksgefühl habe er empfunden, als die Glockenschar droben im Gebälk zum ersten Mal mit vollem Elan loslegen durfte. Erleichtert fügt der Glockengießer hinzu: „Notre-Dame hat wieder eines der schönsten Glockenspiele in ganz Frankreich.“
Zur 850-Jahr-Feier haben sie direkt vor dem prachtvollen Nordportal eigens eine große Tribüne errichtet. Die ist an diesem Samstagabend voll besetzt, ganz oben sitzt mit gefalteten Händen und in festlichem Ornat Monseigneur André Vingt-Trois, der strahlende Pariser Erzbischof.
Unten auf dem großen Platz drängeln sich Schaulustige und besonders viele Gläubige, etliche mit Palmsträußchen. Sie sind ergriffen, schließen andächtig die Augen, bei einigen kullern Freudentränen über die Wangen. Mitunter, wenn prasselnder Beifall aufbrandet, kommt sogar Stadionatmosphäre auf.
Auch Régis Singer ist überwältigt. Der Mann, von Hause Organist, ist „Kampanologe“, „Glockenkundler“ also — und der renommierteste in ganz Frankreich. An diesem Samstagnachmittag darf auch er still triumphieren.
Denn Jahrzehnte hatte er an vorderster Front leidenschaftlich für ein neues Glockenspiel gekämpft, für eines, das endlich dem hohen Rang der Kathedrale, dem mit jährlich 14 Millionen Menschen meistbesuchten Monument der Welt, entspricht.
Das Spiel der neuen Glocken, deren Werden er über Monate hinweg mit Rat und Tat begleitete, lobt er in den höchsten Tönen: „Der Klang, die Harmonie und der Rhythmus sind einfach wundervoll.“
Schon einmal, bis zur Revolution, hatte die mitten auf der Île de la Cité thronende Kathedrale die Gläubigen über Jahrhunderte hinweg mit allerfeinstem Geläut zum Gebet gerufen. Doch dann — voller Wut auf König und Kirche — begann der entfesselte Mob zu wüten. Tausende Priester und Nonnen warfen sie in der Zeit des „Terreur“ auf die Guillotine.
In der royalen Gruft der Kathedrale Saint-Denis schändeten sie die Särge und schleuderten einbalsamierte Könige und Königinnen in die Gosse. In Notre-Dame holten sie — bis auf den dicken und prächtig brummenden „Emmanuel“ von 1686 — alle Glocken aus den Türmen und schmolzen daraus Kanonen und Flinten, Münzen und anderes weltliches Allerlei.
Die einst so stolze Kathedrale widmen sie im grassierenden Jakobiner-Wahn zum Entsetzen der Katholiken dann vollends um: in „Tempel der Vernunft“. Erst Frankreichs Nationaldichter Victor Hugo sollte Jahrzehnte später den dramatischen Zerfall von Notre-Dame beenden. Sein aufrüttelnder, gleichnamiger Roman inspirierte die Pariser zu einer gründlichen Rundum-Sanierung. Zu einer, die die Glockentürme jedoch weitgehend aussparte. Nur vier miserabel klingende Ersatzglocken kamen vor gut 150 Jahren unter der Regentschaft Napoleons III. hinzu.
Schon der Transport der neun neuen Glocken nach Paris Anfang Februar war ein Spektakel. Ebenso die vier Wochen lange Zurschaustellung im Mittelschiff der Kathedrale. Acht wurden in der Normandie gegossen, eine in den Niederlanden. „Jean-Marie“, die kleinste, wiegt 782 Kilogramm und ist knapp einen Meter hoch. „Marie“, die größte, wiegt sechs Tonnen und ist doppelt so groß.
Dazwischen befinden sich Maurice, Etienne, Marcel, Denis, Anne-Geneviève, Gabriel und Benoît-Joseph: die Glocke, die dem deutschen Papst gewidmet ist. Der Wechsel auf dem Heiligen Stuhl verleiht den neuen Glocken von Notre-Dame übrigens eine Besonderheit: Sowohl Benedikt XVI. als auch Papst Franziskus haben die bronzene Schar gesegnet.