Aktuell fasten gerade viele Menschen, so mancher verkneift sich Wurst und Fleisch auf dem Teller oder lässt Süßspeisen weg. Die Durststrecke bis Ostern hat eine lange Tradition - was auch alte Kochbücher belegen, die voller spannender Geschichten stecken. Kostprobe: Vor rund 150 Jahren wurde in der Fastenzeit gerne Fischotter aufgetischt.
Das war eine Idee findiger Mönche und geschickt gemogelt. Dass es sich beim zubereiteten „Fisch“-Otter nicht um Fisch, sondern um einen Fleischbraten handelte, war dem Bürgertum natürlich sehr wohl bewusst, erzählt Mira van Leewen, Leiterin des Deutschen Kochbuchmuseums in Dortmund. Das Beispiel zeige: Rezeptbücher geben Auskunft über Lebensumstände, gesellschaftliche Trends, Haltungen, Rollenverteilungen.
Tausende Titel spiegeln den Wandel in Küche und Gesellschaft
Die bundesweit einzigartige Kochbuch-Bibliothek - Herzstück des Kochbuchmuseums - verfügt über gut 13.000 Titel, das älteste Buch ist fast 300 Jahre alt. Sie spiegeln den Wandel bis heute. Es drängt sich die Frage auf: Können die Menschen aktuell, wo man alles überall fertig zubereitet kaufen kann, überhaupt noch kochen? Wie wirken sich prekäre Lebenslagen auf die Ernährung aus? Und droht eine Kulturtechnik auszusterben?
Vegetarisch gab es schon mal vor 120 Jahren als Trend
Aufschlussreich beim Blick zurück: Der aktuelle Hype um vegane und vegetarische Ernährung ist nicht neu. Schon um das Jahr 1900 herum wurde Veggie mal großgeschrieben. „Das war verbunden mit einer Weltanschauung, dem Trend, sich als Flucht vor Industrialisierung und Materialismus wieder stärker der Natur zuzuwenden“, erläutert van Leewen.
Ein Rezeptbuch von 1893 stellt fest, dass Völker wie „die Schotten und Indier“ auch ohne Fleisch sehr kräftig seien. Als etwa ab 1900 Konserven in hoher Stückzahl produziert werden konnten, kam auch nobles Gemüse wie Spargel für breitere Schichten auf den Teller.
In Notzeiten war an Fleisch nicht zu denken, da musste Löwenzahn in der Suppe reichen, aus Brennnesseln wurde Pudding. Kriegs- und Notbücher beschreiben, wie sich aus Huflattich, Disteln oder Gänseblümchen Speisen zubereiten lassen. Ein „Sparkochbuch“ von 1944 verrät, wie Mehl durch Kartoffeln ersetzbar, Weihnachtsgebäck auch ohne Fett und Eier zu zaubern ist.
Die Dortmunder Bibliothek ist auch Anlaufstelle für viele Forschende, wie die Museumsleiterin schildert. Jüngst ging es um nationalsozialistische Propaganda in Kochrezepten.
Von der dienenden Frau am Herd zum männlichen Sternekoch im TV
Über Jahrzehnte galt das „Praktische Kochbuch“ - erstmals vor 1850 erschienen, in viele Sprachen übersetzt und immer wieder neu auflegt - als eine Art Bibel. Autorin Henriette Davidis (1801 - 1876) würde man heute wohl als Megastar der Kochszene bezeichnen.
Sie hatte Rezepte „für die gewöhnliche und feinere Küche“ parat, gab Tipps zum Pökeln, Einmachen, Räuchern oder Anrichten „für Anfängerinnen und angehende Hausfrauen“. Dass man Schildkröten am Tag vor „Gebrauch“ an den Hinterfüßen aufhängen solle, die Brust des Fischreihers und auch Pfauen als Pastete schmecken könnten, würde heute massive Proteste nicht nur von Tierschutz-Gruppen hervorrufen.
„Die Rezeptbücher haben viele spannende Anknüpfungspunkte. Was man isst, wie man sich ernährt, hat auch viel mit sozialem Status zu tun“, betont Wissenschaftlerin van Leewen. In den Wirtschaftswunderjahren lächeln Frauen mit Schürze vor Errungenschaften wie Elektroherd oder Kühlschrank auf Buchcovern. „Kochen galt als Liebesbeweis an den Versorger, der außerhalb des Hauses unterwegs war.“
Zumindest zu Beginn des TV-Kochshow-Booms waren die Macher am Herd dann auffällig häufig männlich, sagt van Leewen. Heute sei Kochen für viele auch Kommunikation, die Küche oft eine Wohnküche. In der Pandemie habe es einen stärkeren Trend zum Selbstkochen gegeben, insgesamt sei das aber auf dem Rückzug. Der Kochbuch-Markt brumme dennoch, oft seien die Rezepte eingebettet in Lifestyle-Themen - Reisen, Yoga, Fotostrecken.
Aktuell steht es nicht gut um die Kulturtechnik Kochen
Wie sieht es also heute aus beim Kochen? „Wir beobachten eine starke Wissenserosion“, berichtet Kulturwissenschaftler Gunther Hirschfelder von der Uni Regensburg. Also sinkende und fehlende Kompetenzen rund um Lebensmittel, Zutaten und Zubereitung.
Es gebe eine breite Skala, meint Hirschfelder: „Mit der Segmentierung der Gesellschaft haben wir auch eine Segmentierung in den Praktiken der Ernährung.“ Zubereitung falle vielfältig aus, ebenso der Stellenwert des Kochens. Und: „Wir haben auch prekäres Essen in Deutschland.“ Schwierige Lebenslagen und Einkommensarmut ließen tendenziell mehr Menschen aus Preisgründen zu ungesunden und kalorienreichen Lebensmitteln greifen.
Längst nicht immer hänge Kochkompetenz vom Bildungsniveau ab, auch unter Top-Gebildeten fehlten dazu mitunter Lust und Fähigkeit, sagt der Ernährungsforscher. Das Feld sei unübersichtlich. Für manche gehe es schon als Kochen durch, wenn sie ein Fertiggericht aufwärmten. Jüngere machten sich im Netz, etwa über Social Media kundig. Mit der Zuwanderung sei die Esskultur vielfältiger geworden.
Ernährungsbildung ist auch für den Nachwuchs wichtig
In der Generation der Babyboomer sei Kochen „weiblich konnotiert“. Männer kommen hingegen häufig nicht über Basiskompetenzen hinaus - Kartoffeln kochen oder eine Frikadelle braten, wie Experte Hirschfelder erläutert. In der jüngeren Generation sei dann mehr Gleichberechtigung eingezogen. Zugleich landeten hier aber häufiger Fertiggerichte in der Küche.
Auch Mira van Leewen sieht schwindende Fähigkeiten vor allem unter den Jüngeren. „Da müsste man dringend nachjustieren, Ernährungsbildung ist sehr wichtig und sollte auch in der Schule unterrichtet werden.“ Heute fehle oft die Zeit, mit dem Nachwuchs das Kochen daheim über wiederholtes Üben zu vermitteln. „Informelles Wissen geht verloren.“ Was sich hingegen wohl nie ändern werde: „Essen ist ein sehr emotionales Thema.“
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