Retro-Trip junger Singer/Songwriter
Berlin (dpa) - Die Plattenkiste der Eltern als Inspirationsquelle: viele junge Songwriter bekennen sich ganz offen dazu. Drei aktuelle Hochkaräter bedienen sich in den frühen 70er Jahren für einen entspannten Spätsommer-Soundtrack.
Helle Augen, strahlend weiße Zähne, braune Locken, Fünf-Tage-Bart - keine Frage, Jonathan Jeremiah ist der klassische Frauentyp mit Folkie-Touch. Und so klingt auch seine Musik: sanft-sensibel, schmusig, schon fast zu schön. Der junge Brite gehört in eine Reihe talentierter Singer/Songwriter, deren Sound sich direkt auf die geschmackvolle Plattensammlung der Eltern zurückführen lässt, also auf eine Zeit, als die Künstler noch nicht geboren waren.
Wie auch seine US-Kollegen Jonathan Wilson und Maria Taylor bekennt er sich auf seinem Debüt „A Solitary Man“ ganz unverblümt zu großen Vorbildern, die allesamt in den frühen 70er Jahren zu finden sind. „Ich war rebellisch, indem ich gerade nicht gegen die Musik meiner Eltern rebellierte“, erzählt Jonathan Jeremiah augenzwinkernd im Interview der Nachrichtenagentur dpa in Berlin.
Also lernte er schon mit sechs Jahren Gitarre („Statt Französisch - ich hatte die Wahl“) und stöberte durch die Britfolk-Alben seiner Mutter: Cat Stevens, John Martyn, Fairport Convention. „Von meinem Vater kam der amerikanische Einfluss, er sang schon morgens beim Rasieren Sinatra-Songs“ - auch das hört man Jeremiahs Liedern an.
Mit Al Green, Bill Withers oder Marvin Gaye ließen sich noch einige Soul-Giganten nennen, die vor rund 40 Jahre ihre große Zeit hatten und 2011 Spuren auf „A Solitary Man“ hinterlassen haben. Das Ergebnis könnte arg banal und streberhaft klingen - wenn die elf Lieder nicht so wunderbar produziert, virtuos eingespielt und perfekt gesungen wären.
Man taucht also ein in das üppige Streichermeer des Openers „If You Only“ und verliert sich in den täuschend echten Bläser-Soul-Kulissen von „Heart Of Stone“. Jeremiahs warmer Bariton-Gesang trägt das melancholische „Happiness“, anschließend rechtfertigen „That Same Old Line“ und „See (It Doesn't Bother Me)“ weitere ehrenvolle Vergleiche, diesmal mit Burt Bacharach, Scott Walker und Nick Drake.
Der Sänger und Akustikgitarrist aus London leugnet solche Referenzen nicht im Geringsten, dafür legt er in den Texten des Albums umso mehr Wert auf eine sehr eigene Handschrift: „Bei einem Debüt muss der Hörer einen Eindruck vom Künstler gewinnen - daher sind meine Lyrics meist ausgesprochen persönlich.“
Während Jeremiah - der extrem erfolgreichen Neo-Soul-Sängerin Adele nicht unähnlich - mit fast pedantischer Ernsthaftigkeit den Klassikern nacheifert, bedient sich Jonathan Wilson in einer weniger gut ausgeleuchteten Nische der Rock-Historie. Auf seinem Debüt „Gentle Spirit“ würdigt der aus dem US-Staat North Carolina stammende Wilson die gitarrensatte, sonnendurchwirkte 70er-Jahre-Hippiemusik Kaliforniens.
In 13 Songs bis zu zehn Minuten Länge frönt Wilson seiner Liebe zum Sound des Laurel Canyon bei Los Angeles, wo Anfang der 70er Jahre Musiker wie Joni Mitchell, The Byrds oder Buffalo Springfield ihren Gegenkultur-Traum lebten. Songtitel wie „Desert Ravens“, „Canyon In The Rain“ oder „Valley Of The Silver Moon“ spiegeln den Mythos einer Landschaft, die unter Zuhilfenahme bewusstseinserweiternder Substanzen besonders zauberhaft gewirkt haben soll.
Epische Gitarrensoli der Neil-Young-Schule, breite Orgelflächen und Wilsons angenehm-träge Stimme erzielen die gewünschte Wirkung: Dieses Album ist ein Retro-Trip, eine akustische Zeitreise. Dem 36-Jährigen ist mit „Gentle Spirit“ ein veritables Meisterwerk des Folkrock gelungen und zugleich eine liebevolle Hommage an seine Idole.
Verträumt-hippiesk nach den frühen 70ern klingt auch „Overlook“, das fünfte Soloalbum der 35-jährigen Maria Taylor. Songwriterinnen wie Joni Mitchell, Carole King, Emmylou Harris oder Melanie hallen in diesem warmherzig-melancholischen Folkpop nach. Maria Taylor emanzipiert sich mit feinen Liedern wie „Masterplan“, „Matador“ oder „Bad Idea?“ zugleich von ihrem Mentor Conor Oberst (Bright Eyes), seinerseits ein großer Verehrer des Americana-Sounds vergangener Dekaden. Zurück zu den Wurzeln - auch für diese Künstlerin offenkundig ein Erfolgsrezept.