Schach: Die Gemeinde der Grübelnden

In Bonn spielen Kramnik und Anand den WM-Titel aus. Das ist faszinierend – weil alle mitdenken.

Bonn. Nur ein Steinwurf entfernt vom Bonner Museum der deutschen Geschichte wird Schachgeschichte geschrieben. Großflächige Plakate an der Kunsthalle künden von dem Zweikampf hinter der Fassade, der die Großgemeinde der Schachfanatiker seit einigen Tagen in Atem hält.

Zwei Wochen lang bis zum 2. November ringen der Inder Viswanathan Anand und der Russe Wladimir Kramnik um die Schach-Weltmeisterschaft. Täglich. Von 15Uhr bis in den Abend hinein. Ein Duell eins gegen eins. Es sind die beiden derzeit besten Schachvirtuosen der Welt.

Burkhard Welters hat 35 Euro auf den Tisch gelegt, um den Kampf der Giganten einen Tag lang zu verfolgen. Welters, ein kleiner Mann mit Nickelbrille und Mittelscheitel, spielt selbst Schach, freilich unterklassig, beim TuSGriesheim. "Das jetzt mal mitzuerleben ist unglaublich spannend", sagt er und grinst glückselig.

Welters zieht an seiner Zigarette vor dem Eingang der Kunsthalle. Er gönnt sich eine Pause, eine Denkpause. Er hat mitgedacht. Das machen alle hier. Kramnik und Anand spielen, und das Publikum denkt ihre Züge mit, vor sogar, obwohl es niemand besser kann als die Protagonisten vorne auf der imposant beleuchteten Empore.

Die Bühne erstrahlt aus der Dunkelheit, in der das Publikum auf der Tribüne verloren geht. Anand und Kramnik erscheinen auf ihrem Podest durch ein diffuses Licht. Zuschauer und Spieler trennt ein etwa 20 Meter breites und zehn Meter hohes Netz aus Gaze. Was wie ein gigantisches Fliegengitter aussieht, dient als Schutz vor heimlicher Zeichengabe.

Seit der Computer dem Menschen überlegen ist - den letzten Beweis hierfür trat zwei Jahre zuvor der Computer "Deep Fritz" mit seinem Sieg an exakt gleicher Stelle gegen Kramnik an - wurde stets vermutet, die Akteure hätten Zeichen von ihren Managern aus dem Publikum empfangen. Jetzt ist dieses Netz in Bonn nur einseitig durchsichtig.

Anand und Kramnik können das Publikum nicht sehen. "Wir schauen quasi gegen eine schwarze Wand", sagt Kramnik. Dass hier etwas Großes geschieht, liegt in der Luft. Ein Drama, in dem Bauern geopfert werden, um Türme, die ins Wanken geraten, und um Läufer, die zu Hilfe eilen.

Der 66-jährige Rentner Herbert Steffen verfolgt das Spiel gebannt auf der Tribüne. Seine Frau hat er eine Halle weiter in der Ausstellung "Rom und die Barbaren" abgesetzt. Um 16.45 Uhr hat sie genug von Rom, sie will ihren Mann zurück. "Ist das Schachspiel schon zu Ende?", fragt sie in die Runde, was naiv ist, weil Anand und Kramnik für gewöhnlich zwischen drei und fünf Stunden die Klingen kreuzen. Sie muss noch sehr geduldig sein.

Wer mit einem klingelnden Handy auf der Tribüne sitzt, bekommt vom Ordnungspersonal eine Verwarnung. Hier wird keine Komödie gegeben, sondern ein Schauspiel von grausamem Ernst. Man sieht das vor allem Kramnik an. Der Russe wird gedemütigt von Anand, damit konnte man nicht rechnen. Nach sechs gespielten Partien ist das Duell vorentschieden, dreimal hat Anand gewonnen, die anderen Partien endeten remis.

"Kramnik wird sich hundsmiserabel fühlen", sagt Helmut Pfleger in einer weiteren Halle, in der der deutsche Großmeister das WM-Duell mit anderen Schachexperten analysiert und moderiert. Pfleger hat zwei aufrechte Schachbretter vor sich, auf denen das laufende Spiel nachgestellt und alle möglichen Variationen vorgestellt werden.

Die Figuren schiebt er hin und her, sekundenschnell. Jeder versucht mitzudenken. Zuschauer, ja sogar Journalisten diskutieren die nächsten Züge. Am Ende versteht auch Pfleger nicht alles, was Anand und Kramnik machen. Aber der Inder wird Recht behalten. Pfleger weiß das. "Er ist in der Form seines Lebens", sagt Pfleger über Anand, der sich monatelang mit Hunderten von Partien seines Gegners auseinandergesetzt hat.

Pfleger hat sie alle erlebt: Bobby Fischer, Boris Spasski, Anatoli Karpow, Garri Kasparow, jetzt Kramnik und Anand. "Die beiden sind absolute Gentlemen. Die Psychospiele, die es früher gegeben hat, sind hier unmöglich", sagt Pfleger.

Am Ende verliert Kramnik. Er sieht hundsmiserabel aus. Viele auf der Tribüne haben mit ihm gelitten, bis zuletzt. am Mittwoch hatten Kramnik und Anand frei, Bonn hatte Denkpause. Die Reserven mobilisieren. Vor allem Kramnik und die Zuschauer haben es nötig.