Seetagebuch von Sea-Eye-Helfer Johannes Stein
Der Wuppertaler Johannes Stein war zum ersten Mal im Mittelmeer im Einsatz. Mit seinem Vater fuhr er auf der „Sea Eye“ mit, um schiffbrüchige Flüchtlinge zu retten. Seine Erlebnisse hat er in einem Tagebuch festgehalten.
Die Crew: Thomas Brodbeck (RIB-Fahrer), Gerd Geißendörfer (Kommunikator), Raphael Brodbeck (Koch & Kommunikator), Franziska Hansen (Kapitänin), Andreas Unruh (Maschinist), Achim Stein (Arzt), Johannes Stein (Arzt), Ivo Unruh (Deckshand), Martin Ernst (Einsatzleiter)
Wir übernehmen morgens das Schiff, eine richtige Übergabe im vorgesehenen Sinne findet nicht statt, da etliche Besatzungsmitglieder der alten Crew schon abgereist sind (inklusive Arzt). Der Sanitäter gibt uns eine kurze Einweisung im Hospital. Wir fahren in die Krankenhausapotheke und besorgen benötigte Medikamente etc. Abends präparieren wir zwei Rettungsinseln, das bedeutet, Treibsäcke entfernen, Überlebensutensilien, inkl. Messer etc. entfernen und danach wieder zusammenfalten. Dabei aufpassen, dass der Zünder nicht ausgelöst wird...
Die Ausfahrt aus dem Hafen von Valletta verzögert sich, da beim Festzurren der Rettungsinsel dann doch der Zünder gelöst wird. Von der nun aufgeblasenen Insel müssen wir anschließend dann an Land die Luft wieder ablassen und die Insel zusammenfalten. Die gut 350 km Fahrt ins Einsatzgebiet vor der libyschen Küste dauert bei ruhiger See ca. 30 Stunden (bei 7,5 Knoten Fahrt). Auf dem Weg machen wir nachmittags insgesamt vier Aus- und Einkranübungen mit dem RIB.
Morgens wird die See etwas rauer, wir treffen gegen 15.30 Uhr im Zielgebiet ein und patrouillieren nur noch in etwa 30 sm Entfernung zur Küste. Generell ist am Nachmittag nur selten mit Flüchtlingsbooten zu rechnen, da diese meistens nachts starten unddementsprechend am Morgen die 16-24 Meilen Grenze erreichen. An diesem Tag gibt es keine Sichtungen. Abends übergeben wir dem Schiff ‚Iuventa‘ der Organisation Jugend Rettet noch ein Satellitentelefon. Nachts wird, sofern es keine Meldungen über Sichtungen gibt, in sicherem Abstand von der Küste auf etwa 30-40 Meilen gedriftet, d.h. der Motor ist aus (Stromgenerator läuft noch) und man treibt mit der Strömung. Wache muss allerdings auch nachts gehalten werden.
An diesem Tag ist die See ruhig, potentiell also 'gute' Verhältnisse für Schleuser. Wir patrouillieren auf der 24 Meilen Grenze, haben aber den ganzen Tag keine Sichtungen. Gegen 15 Uhr übergibt uns die Seefuchs (das zweite Boot der Organisation Sea-Eye) AIS-Transponder zum Befestigen an der Rettungsweste, bzw. zur Übergabe an RB’s bei starker Drift. In der Nachtwache nähert sich ein Kriegsschiff bis auf 2 sm der Sea-Eye, ansonsten ereignislos.
Auch an diesem Tag patrouillieren wir bei ruhiger See auf der 24 Meilen Grenze. Die Vorgabe des Vereinsvorstandes lautet, sich nur bei expliziten Anweisungen des MRCC oder anderer Schiffe unterhalb der 30, bzw. 24 Meilen Grenze zu bewegen. Crewintern sind wir uns einig, dass die Wahrscheinlichkeit auf der 30 Meilen Grenze auf intakte RBs zu treffen, wesentlich geringer ist und entschließen uns daher zur Patrouille auf 24 Meilen, da auch an diesem Tag tendenziell gute Wetterbedingungen herrschen. Gegen 10 Uhr finden wir den Torso eines verstorbenen Flüchtlings. Der Körper ist oberhalb der Hüfte abgetrennt, die Füße fehlen, die Beine sind bis auf Tibia und Fibula (Schien- und Wadenbein) zersetzt. Nach zwei Tagen ereignisloser Suche sollte uns dieser Fund die brutale Realität der Situation vor der libyschen Küste wieder bewusst machen.
Ansonsten bleibt auch dieser Tag ohne Sichtungen. Über Funk meldet lediglich der MRCC die Sichtung eines RB etwa 100sm östlich unserer Position, die Vos Hestia der Organisation Ärzte ohne Grenzen ist am nächsten an der angegebenen Position und begibt sich auf den Weg. Abends beschleicht mich kurz das Gefühl, ob wir mit unserer doch sehr vorsichtigen Suche fernab der Küste überhaupt auf Boote treffen können. Alle anderen NGOs patrouillieren wesentlich näher an der Küste auf 14-18sm. Zu dem Zeitpunkt ist noch nicht zu ahnen, was die nächsten Tage auf uns zukommen wird...
In der Nachtwache von 0 bis 3 Uhr meldet die Sea-Watch (NGO Sea-Watch), sie habe vom MRCC Meldung über mehrere gestartete Boote von der libyschen Küstenstadt Sabratah bekommen. Sie bittet die Iuventa und die Phoenix (maltesische NGO MOAS) um Hilfe, welche sie dann ins Einsatzgebiet auf etwa 15 Meilen begleiten. Uns erreicht dann um 5 Uhr morgens ein Anruf des MRCC und kurz darauf auch einer der Sea-Watch, die anderen Boote auf etwa 15 Meilen zu unterstützen. Es werden an diesem Morgen etwa 30(!) Boote gemeldet, die die libysche Küste auf Höhe Sabratah verlassen haben (zur Information: die Meldungen über gesichtete Boote stammen zumeist von Überwachungsflugzeugen des MRCC bzw. sind zufällige Sichtungen kommerzieller Schiffe, ein übliches Flüchtlingsboot hat mindestens 120-130 Personen an Bord, wobei größere Holzschiffe wesentlich mehr Personen transportieren). Unter den gesichteten Booten befindet sich mindestens ein großes Holzboot mit ca. 600 Personen an Bord.
Als wir im Gebiet ankommen, sind insgesamt fünf Rettungsschiffe vor Ort (Phoenix, Iuventa, Sea-Watch, Vos Hestia, Vos Prudence). Wir passieren zwei Flüchtlingsboote (ein RB und ein Holzboot) dessen Insassen bereits mit Schwimmwesten versorgt sind. Wir sollen diese beiden Boote bis zur Abbergung betreuen. Kurz darauf bekommen wir allerdings vom MRCC den Auftrag, in kurzer Entfernung nach Personen im Wasser zu suchen. Wir fahren ein Suchraster um die angegebene Position, können aber keine Personen ausmachen. Später stellt sich heraus, dass diese Personen bereits eine Stunde zuvor von Sea-Watch geborgen wurden.
Mittlerweile hat die Iuventa das besagte Holzboot mit ca. 500 Personen an Bord gefunden, sodass der MRCC uns um Unterstützung bei der Bergung bittet. Auf dem Weg zur Iuventa entdecken wir dann allerdings zwei RBs, dessen Insassen noch nicht mit Schwimmwesten versorgt sind. Das Szenario irritiert mich zunächst, da die beiden Flüchtlingsboote von drei bis vier kleinen Motorbooten begleitet werden, darunter auch ein kleineres Boot der „libyschen Küstenwache“ dessen Besatzung sich offenbar immer wieder mit den Personen auf den kleinen motorisierten Booten austauscht. Nach Erklärung handelt es sich hierbei um sog. Engine-Fisher (EF). In unmittelbarer Nähe zu diesen beiden Booten teilt uns das MRCC mit, dass wir nur noch 13 Meilen von der Küste entfernt sind.
Wir entschließen uns, das optisch in schlechterem Zustand befindliche Boot auf unserer Steuerbordseite zuerst mit Schwimmwesten zu versorgen. Der Außenbordmotor des RBs ist nicht mehr funktionstüchtig, so dass es Richtung Süden driftet. Also nehmen wir das RB in Schlepp, um ein Abdriften unter die 12 Meilen zu vermeiden (ohne ausdrückliche Erlaubnis der Libyer ist eine Einfahrt in das Hoheitsgewässer untersagt). Inzwischen ist das irische Kriegsschiff ‚Le Eithne‘ auf dem Weg zu uns, um das noch unversorgte, und anschließend das von uns bereits mit Schwimmwesten versorgte RB abzubergen, was dann auch ohne Probleme abläuft. Uns werden daraufhin vom MRCC mehrere Positionen mit gesichteten RBs durchgegeben.
Wir fahren Suchraster, finden allerdings nur bereits abgeborgene RBs. Die Sea-Watch hat zwischenzeitlich knapp 350 Personen an Bord (eigentliche Kapazitätsgrenze 150), sodass wir und die Iuventa, die selber bereits etwa 200 Personen aufgenommen hat, zur Entlastung herbeigebeten werden. Ein weiteres Shutteln der Personen wird dann aber durch das MRCC untersagt. Stattdessen unterstützen wir die Sea-Watch bei der Verpflegung ihrer Flüchtlinge und produzieren innerhalb einer Stunde Couscous für 250 Personen. Koch Raphael und Doc Achim zaubern sogar noch Geschmack dran. Ein sich am Abend näherndes Holzboot mit nochmals ca. 130 Personen wird durch die Iuventa abgeborgen. Für diesen Tag ist unser Einsatz um ca. 20.30 Uhr beendet und wir begeben uns auf Nachtposition.
Um etwa 6 Uhr morgens werden wir von der Sea-Watch um Hilfe gebeten. Sie hat mehrere RBs auf etwa 15 Meilen ausgemacht. Eines davon versorgen wir mit Rettungswesten, die Insassen werden kurz darauf von der Sea-Watch abgeborgen, bzw. die Betreuung wird kurzzeitig durch Sea-Watch übernommen, da wir von der etwa neun Meilen entfernten Vos Hestia dringend um Hilfe gebeten werden. Es soll sich herausstellen, dass an diesem Tag noch mehr Flüchtlinge als am Vortag starten. Grund hierfür sind vermutlich der am Sonntag beendete Ramadan und das ruhige Wetter. Insgesamt sind von Sonntag bis Dienstag über 13.000 Flüchtlinge von der libyschen Küste in Richtung Italien gestartet.
Bei der Vos Hestia angekommen, bietet sich ein noch dramatischeres Bild als am Vortag. Im Radius von wenigen Meilen können wir mindestens sieben Flüchtlingsboote ausmachen. Darunter mindestens drei große Holzboote mit jeweils mehr als 500 Personen an Bord, alle noch nicht mit Rettungswesten versorgt. Zu diesem Zeitpunkt sind wir die einzigen zwei Rettungsboote in näherer Umgebung. Wir konzentrierten uns zunächst auf das nördlichste der Boote. Dieses wird von zwei EF verfolgt und setzt seinen Kurs streng Richtung Norden fort. Dies erschwert die Kontaktaufnahme durch uns (üblicherweise ist es so, dass EF sobald NGOs oder zu Hilfe kommende Kriegsschiffe in der Nähe sind, den Außenbordmotor der RB demontieren).
Nachdem wir uns mit unserem RIB nähern, um die Insassen mit Westen zu versorgen, stoppen diese den Motor nicht, da sie uns für libysche Schleuser halten, dies evtl. auch aufgrund des arabischen „Rescue“ Schriftzuges auf unserem Schiff, wie sie uns später erzählen. Eine Übergabe der Westen ist zunächst also unmöglich. Weitere Überzeugungsversuche, inklusive Vorzeigen unserer deutschen Pässe, scheitern. Erst als wir mit unserem RIB abdrehen und es demonstrativ wieder an Bord kranen, bemerken wir, dass das RB wendet und auf uns zufährt. Erneut lassen wir unser RIB zu Wasser und können nun endlich die insgesamt 156 Personen an Bord nehmen, wofür die Sea-Eye eigentlich nicht ausgelegt ist. Das, was wir unbedingt vermeiden wollen, ist anders nicht möglich, weil alle größeren, hierfür geeigneten Schiffe vollkommen überlastet sind.
Anschließend begeben wir uns umgehend wieder zur Vos Hestia, wobei von Achim und mir auf dem Weg medizinische Fälle behandelt werden. Die meisten Patienten sind nur dehydriert, lebensbedrohliche Notfälle gibt es zum Glück nicht. Zurück im Einsatzgebiet findet sich mittlerweile eine unüberschaubare Anzahl an Booten. Unterstützt werden wir mittlerweile von mindestens vier Kriegsschiffen der irischen und italienischen Marine. Allerdings sind zahlreiche Flüchtlingsschiffe nach wie vor nicht mit Schwimmwesten versorgt. Einige Rettungsschiffe sind bereits weit über ihre Kapazitätsgrenze mit geretteten Flüchtlingen besetzt, z.B. die Vos Hestia mit 1060 Personen an Bord (absolutes Limit bei 750). Unser RIB ist somit den ganzen Tag im Dauereinsatz, um beim Versorgen mit Westen und dem Abbergen der Personen zu helfen.
Gegen Nachmittag spitzt sich die Situation zu, als zwei RBs im Begriff sind, zu sinken. Glücklicherweise können die Personen an Bord noch rechtzeitig gerettet werden. Uns erreicht sodann aber der Funkspruch, dass unser RIB mit einem bewusstlosen Jungen auf dem Weg zu uns ist. Achim und ich bereiten das Nötigste vor und nehmen den Jungen auf. Dieser ist nur mit einer kurzen Hose bekleidet, unterkühlt, atmet aber noch spontan. Erstmal also Entwarnung. Wir schaffen den Jungen ins Hospital, er hyperventiliert stark, sodass wir ihn in eine Papiertüte rückatmen lassen. Wir untersuchen ihn, schließen ihm eine Infusion an und wärmen ihn. So verbessert sich sein Zustand schnell. Es handelt sich um einen 16-jährigen Jungen aus Ghana, der seine Eltern vor einem halben Jahr bei einem Autounfall verloren hat. Seine Schwestern, vier und acht Jahre alt, lässt er in der Heimat zurück, um sich dann alleine auf den Weg nach Libyen zu machen.
Die Situation draußen bei den anderen RBs bleibt unübersichtlich. Thomas, der Fahrer unseres RIBs, berichtet von einer Szene, bei dem den bereits versorgten Flüchtlingen eines RBs von herankommenden EF hektisch ein Baby eingewickelt in ein Tuch überreicht wird, welches wohl von einem gesunkenem RB stammt und durch die EF dort entdeckt wird. Von der Mutter fehlt zu diesem Zeitpunkt jede Spur. Neben der körperlichen Belastung sind es Szenen wie diese, die uns alle auch mental an unsere Grenzen bringen. Mittlerweile ist es 21 Uhr und dunkel. Es werden immer noch RBs gesichtet, die nicht mit Westen versorgt sind. Zu diesem Zeitpunkt stehe ich auf der Brücke und verfolge den Funkverkehr.
Gerade setzt die Iuventa einen Hilferuf ab. Sie befindet sich auf 10 Meilen Entfernung zur Küste Libyens und hat dort mehrere sinkende RBs gesichtet. Nach Absprache mit dem MRCC kann mittlerweile eine Genehmigung eines libyschen Generals eingeholt werden, der die Einfahrt für NGO-Schiffe in das Hoheitsgebiet erlaubt (Schiffen des europäischen Militärs bzw. der italienischen Küstenwache ist die Einfahrt hingegen untersagt). Die Iuventa meldet sodann "multiple people in the water". Wir begeben uns auf direktem Weg zu ihr. Der Horizont ist zu diesem Zeitpunkt übersäht mit Flüchtlings- und Rettungsschiffen. Einige von ihnen mit starken Flutlichtern, um das Einsatzgebiet zu beleuchten. Die drei bereits abgeborgenen großen Holzschiffe werden von der italienischen Marine zwischenzeitlich in Brand gesetzt, um nicht von den EF abgeschleppt und so später nochmals verwendet werden zu können. Dieser Anblick gleicht einem apokalyptischen Szenario mit sinkenden RBs, in Flammen stehenden Holzbooten und versorgenden Rettungsschiffen.
Mit den Hilferufen über Funk im Hintergrund denke ich kurz: „Das hier ist gerade das Ende der Welt...“ Die Situation bei der Iuventa, in deren Nähe sich mittlerweile auch die Sea Watch befindet, ist ähnlich dramatisch. Einige RBs sind bereits hüfthoch mit Wasser geflutet, viele Personen werden direkt aus dem Wasser gezogen und in ausgebrachte Rettungsinseln verbracht. Für etliche Personen kommt allerdings jegliche Hilfe zu spät. Unser RIB bringt gegen 22.30 Uhr noch neun Personen von einem gesunkenen RB zu uns. Allen ist das Entsetzen ins Gesicht geschrieben. Einer von ihnen musste seiner Frau beim Ertrinken zusehen, ein anderer wurde von seiner Frau getrennt, ohne zu wissen, ob sie noch lebt.
Als scheinbar alle Personen geborgen sind (auf der Sea-Watch befinden sich mittlerweile knapp 500 Menschen auf der Iuventa über 300, auf unserem kleinen Schiff 156), sollen wir zur Identifikation noch ein geborgenes RB mit drei Leichen abschleppen. Die Befestigungsösen lösen sich immer wieder. Mittlerweile sind wir alleine in libyschem Hoheitsgebiet in nur 10nm (nautische Meilen) Abstand von der Küste, da die Iuventa und Sea Watch jeweils medizinische Notfälle an Bord haben, die sie schnellstmöglich der italienischen Marine übergeben müssen. Wir entscheiden uns also, die Leichen zurückzulassen und fahren Richtung Norden. Das RIB der Sea Watch versorgt kurz unterhalb der 12 Meilen Grenze noch ein RB, als sich ein Schnellboot der libyschen Küstenwache nähert und die Sea Watch und ihr RIB zum Anhalten zwingt.
Die Sea Watch fährt weiter und die Besatzung des RIBs berichtet über Funk, dass sich Soldaten mit Waffen an Bord befinden, die den Befehl geben, die Hoheitsgewässer umgehend zu verlassen. Der OSC des italienischen Kriegsschiffes versucht Funkkontakt zu den Libyern aufzubauen. Der Kommandant an Bord sagt, er mache nur seinen Job und er wisse nichts von einer Abmachnung mit einem General. Alle Boote sollen die Hoheitsgewässer also umgehend verlassen. Zum Schluss noch die Worte „may god be with you“, ….welcher Hohn! Der OSC schafft es nun, die Situation zu entschärfen und versichert ein sofortiges Verlassen aller europäischen Boote des libyschen Hoheitsbereiches.
Zu diesem Zeitpunkt haben wir die 12 Meilen Grenze etwa vor zehn Minuten passiert. Keine Minute zu früh... Durch den OSC werden sodann alle Schiffe angewiesen, Richtung Norden zu fahren. Die Versorgung der Flüchtlinge auf der Sea-Eye fordert uns allen in der Zwischenzeit viel ab. Viele sind nach wie vor dehydriert, bekommen Infusionen und werden mit Wasser versorgt. Lebensbedrohliche Notfälle gibt es zum Glück keine. Viele haben allerdings Verätzungen von ausgelaufenem Benzin auf den RBs, einer hat einen superinfizierten Herpes Zoster am gesamten Rumpf mit flächigen Ulzerationen, insgesamt aber alles nicht bedrohlich. Wir teilen Wasser und Rettungsdecken zum Wärmen aus. Raphael unser Koch bereitet Couscous zu. Das Austeilen an mittlerweile 165 Personen ist kräftezehrend. In der Nacht sollen wir nur wenig Schlaf bekommen.
Das MRCC sichert uns eine zeitnahe Abbergung der Flüchtlinge zu und teilt uns die Position zur Übergabe mit. Diese erreichen wir am frühen Morgen wie auch die Iuventa und die Sea Watch. Die Abbergung verzögert sich schließlich, da eintreffende Kriegsschiffe immer wieder weiter Richtung Süden beordert werden. Dort treffen nach wie vor Flüchtlingsboote ein. Die Kriegsschiffe übernehmen verständlicherweise zunächst die von Schiffen der kommerziellen Schifffahrt (Frachter und Tanker)aufgenommenen Flüchtlinge, die bereits am Vortag von deren Besatzungen geborgen wurden. So verzögert sich der Transfer bei uns weiter, bis das MRCC uns schließlich am späten Nachmittag darum bittet, die Personen an Bord selber zum italienischen Festland zu bringen.
Nach eindringlicher Erklärung, dass eine 30 stündige Überfahrt mit 165 Personen an Bord (auch auf dem Vordeck) nicht sicher ist, können wir schließlich am frühen Abend die Personen an Bord auf die Rio Seguro, ein Boot der spanischen Küstenwache, übergeben. Die neun Personen, die später von uns aufgenommen wurden, werden an das irische Kriegsschiff Echo übergeben. Die Transfers dauern bis ca. 22 Uhr. Nach und nach verlassen also sämtliche, zum Teil überladene Rettungsschiffe das Einsatzgebiet, um die Flüchtlinge nach Italien zu bringen. Meine Sorge, dass an den Folgetagen dann entsprechend Schiffe für Rettungseinsätze vor Ort fehlen, soll sich als nicht unbegründet erweisen...
Um 0 Uhr bekommen wir einen Anruf vom MRCC mit der Bitte, uns zu einer Position zu begeben, auf der mindestens vier RBs gesichtet werden. Wir funken die sich in unserer Nähe liegende Sea Watch mit der Bitte um Unterstützung an. Diese ist allerdings nach der Aufnahme von insgesamt fast 1.000 Menschen in den letzten 48 Stunden am Ende ihrer Ressourcen und will eigentlich zurück Richtung Malta aufbrechen, sagt uns aber ihre Hilfe zu. Ich lege mich noch kurz für zwei Stunden hin, ohne wirklich Schlaf zu bekommen. Um drei Uhr morgens entdecken wir dann ein Holzboot mit ca. 130 Personen an Bord. Die Flüchtlinge berichten von mindestens vier weiteren Booten, die an diesem Tag mit ihnen von Sabratah aus gestartet seien. Wir versorgen sie zusammen mit der Sea Watch mit Rettungswesten. Soweit alles problemlos, bis sich ein libysches Kriegsschiff schnell nähert. Dieses feuert in einiger Entfernung zwei Mal in die Luft. Die Sea Watch beordert ihr RIB sofort zurück.
Da die Flüchtlinge auf dem Holzboot drohen in Panik zu verfallen, entschließen wir uns, vor Ort zu bleiben. Das Kriegsschiff nähert sich weiter, der Aufbau eines Funkkontaktes ist zunächst nicht möglich. Der Besatzung unseres RIBs gelingt dann die Kommunikation mit den libyschen Soldaten. Diese weisen uns schließlich an, das Flüchtlingsschiff innerhalb von 30 Minuten zu evakuieren, ansonsten würden sie sich darum kümmern. Sie hätten keine Zeit und müssten das Holzboot umgehend zerstören. Wir beeilen uns also mit dem Transfer auf die Sea Watch und machen uns auf den Weg Richtung Norden. Entgegen ihrer Aussage können wir erkennen, wie Soldaten den Motor des Holzbootes auf ihr Beiboot verfrachten. Wir begeben uns danach weiter auf Suchfahrt.
Obwohl uns durch das MRCC und die Moonbird (Luftaufklärungsflugzeug der Sea Watch) einige Positionen durchgegeben werden, können wir zunächst keine weiteren Boote finden. Wir sind an diesem Tag nun das einzig verbliebene Schiff im Einsatzgebiet. Alle Kriegsschiffe und die Schiffe anderer NGOs befinden sich mittlerweile auf dem Weg nach Italien, bzw. Richtung Norden. Gegen 17 Uhr können wir dann durchs Fernglas ein RB ausfindig machen. Die Personen an Bord geben an, zusammen mit einem anderen Boot gegen zehn Uhr morgens von Zuwarah aus losgefahren zu sein. Die Menschen sind überglücklich als wir sie abbergen.
Bei der Aufnahme an Board fällt uns ein Mann auf, der seine Beine nicht mehr bewegen kann und unfähig ist zu laufen. Dies sei nach eigener Aussage am Morgen aber noch möglich gewesen. Wir stützen ihn, bringen ihn auf die Krankenstation und vermuten zunächst eine Dehydrierung und völlige Erschöpfung bei einem offensichtlich unterernährten 36-Jährigen. Wir kümmern uns durchgehend um ihn, er schläft und halluziniert offensichtlich, reagiert aber noch auf Ansprache. Das Abbergen des Schiffes ist um etwa 22 Uhr abgeschlossen und wir begeben uns dann auf den Weg nach Norden, wo die Personen am nächsten Tag von einem italienischen Kriegsschiff übernommen werden sollen.
Zu Erinnerung: Die Personen auf dem Holzboot berichten von vier weiteren Booten, die mit ihnen gestartet sind, das RB von einem weiteren. Keines von diesen soll in den nächsten Stunden/Tagen gefunden werden. Selbst bei zurückhaltender Schätzung sind das also mindestens 600 Personen. Der offensichtliche Tod dieser Personen wird mit keiner Zeile in irgendeiner Zeitung der Welt Erwähnung finden, noch werden sie in irgendeiner Statistik auftauchen...
Am Morgen gehe ich um etwa 4 Uhr zu dem besagten Patienten. Der Zustand hat sich nun rapide verschlechtert, er öffnet die Augen weder auf Ansprache noch auf Schmerzreiz. Kurz darauf sehe ich, wie er generalisiert beginnt zu krampfen. Der Anfall dauert ca. 1,5 min. Ich gehe zu unserer Kapitänin und teile ihr mit, dass der Patient umgehend auf ein größeres Schiff mit besserer medizinischer Ausstattung verlegt werden muss. Wir funken zwei italienische Kriegsschiffe an. Das erste schließt die Aufnahme kategorisch aus. Zwischenzeitlich krampft der Patient ein zweites Mal. Ich funke mit dem Arzt des zweiten italienischen Kriegsschiffes und vermute bei dem Patienten zunächst bei 40 Grad Fieber, hohem Puls aber stabiler Sauerstoffsättigung, Malaria oder eine Sepsis. Der Arzt sagt mir, sie hätten keine Antibiotika an Bord und können den Patienten nicht aufnehmen. Schließlich erreichen wir den Arzt der Golfo Azzuro (Organisation Open Arms), der zunächst auch eine Malaria vermutet und uns Hilfe zusichert.
Das medizinische Team der Golfo Azzurro kommt dann gegen 7 Uhr an Bord, macht einen Malaria-Schnelltest, der aber negativ ist. Bei diskret steifem Nacken steht der Verdacht auf eine Meningitis als neue nicht unwahrscheinliche Verdachtsdiagnose im Raum. Der Patient wird umgehend auf die Golfo Azurro verbracht. Dort krampft er insgesamt sechs weitere Male. Der Arzt versucht wiederholt einen Hubschrauber anzufordern, da der Patient mittlerweile beatmungspflichtig geworden ist. Obwohl sich in unmittelbarer Nähe ein italienisches Kriegsschiff mit Hubschrauber befindet, wird die Forderung verwehrt. Die Golfo Azurro begibt sich sodann auf den Weg nach Lampedusa, mit einer Fahrtzeit von mindestens 15 Stunden.
Da es sich bei einer bakteriellen Meningitis um eine potenziell hoch infektiöse Erkrankung handelt, fragt das MRCC an, wie viel Medikamente wir zur Post-Expositions-Prophylaxe an Bord haben (Ciprofloxacin 500mg). Unsere Vorräte beschränken sich auf Tabletten für etwa 20 Personen. Alle Crewmitlgieder sowie zwei Personen, die in den letzten vier Wochen engeren Kontakt zu dem Patienten hatten (darunter der Bruder), erhalten die Tabletten. Wir bitten den MRCC umgehend um Versorgung mit weiteren Medikamenten und um zeitnahe Unterstützung bei der Situation an Bord, da die hygienischen Bedingungen unter den gegebenen Umständen katastrophal sind (Personen teilen sich Trinkflaschen, stehen dicht an dicht, Urin, Kot etc.).
Wir werden immer wieder vertröstet, schließlich mit der Nachricht, dass sich ein Hubschrauber mit den Medikamenten sowie zwei Boote zur Abbergung auf dem Weg zu uns befinden. In der Zwischenzeit haben wir bei zwei weiteren Personen mit hohem Fieber und Kopfschmerzen den Verdacht auf eine Meningitis. Wir halten weiter Kurs Richtung Norden. Auf dem Vordeck rede ich mit ein paar Flüchtlingen und höre mir ihre Geschichten an. Sie berichten mir, sie hätten zwischen 600-2.000 USD für die Überfahrt gezahlt. Macht bei besagtem Boot mit 129 Personen etwa 100-260tsd USD, ein riesiges Geschäft für die Schleuser. Wie zum Trost begleiten uns drei große Delfine für zehn Minuten in unserer Bugwelle und springen immer wieder aus dem Wasser.
Trotz unserer eindringlich formulierten Bedenken, dass ein Abseilen aus dem Hubschrauber auf das Deck der Sea-Eye aufgrund der dort liegenden Flüchtlinge wahrscheinlich nicht möglich sein wird, trifft dieser schließlich bei uns ein. Er umkreist zweimal die Sea-Eye, um dann festzustellen, dass die Paket-Übergabe nicht möglich ist. Also übergibt er das Paket schließlich an eines der Boote der italienischen Küstenwache, welches sich auf dem Weg zu uns befindet. Kurz vor Ankunft des ersten Bootes werden wir per Funk darüber informiert, dass dieses nur zur Aufnahme der zwei Verdachtsfälle vorgesehen ist. Wir übergeben also die beiden Kranken und nehmen das Paket des Helikopters entgegen. Während Achim und ich darüber diskutieren, wie man die Tabletten an die Personen an Bord verteilen kann, öffne ich die Tasche um nachzusehen, was überhaupt übergeben wurde. In ihr befinden sich zwei Kühlakkus und eine Packung Ciprofloxacin mit sechs Tabletten für 128(!) Menschen und eine Ciprofloxacin-Infusion. Ungläubig legen wir die Tasche beiseite und verwerfen den Plan der Tablettenausgabe.
Wir sind fassungslos darüber, dass einem totkranken Patienten (der nach Mitteilung der Golfo Azzurro zu diesem Zeitpunkt bereits verstorben ist) der Hubschraubertransport verwehrt wird, um diese Ressourcen dann für den Transfer von sechs Tabletten Ciprofloxacin zu nutzen... Kurz darauf nähert sich das zweite Schiff der Küstenwache mit Snacks und Wasser. Wohl ein Missverständnis, wo wir doch angenommen haben, dass die Personen an Bord durch dieses Schiff endlich abgeborgen werden. Fehlanzeige. Snacks und Wasser werden übergeben. Mittlerweile haben wir die Zusage von der eine Stunde entfernten Phoenix bekommen, dass sie unsere Personen an Bord übernehmen werden. Da der Wind auffrischt und ein Transfer mit unserem kleinen RIB unter diesen Umständen Ewigkeiten dauern würde, bitten wir das Schiff der Küstenwache um Hilfe. Dieses handelt aber nur nach Auftrag des MRCC und fährt zunächst wieder ab, kommt dann aber zurück und übernimmt den Transfer auf die Phoenix. Zum Abschied kommen einigen von uns die Tränen, als die Flüchtlinge sich alle winkend und voller Dankbarkeit von der Sea-Eye entfernen. Nach dem Aufräumen an Deck endet unser Einsatz nach fünf Tagen, mit nicht mehr als zwei Stunden Schlaf pro Nacht, um Mitternacht.
Mit einem defekten Motor unseres RIBs und einem gesundheitlich angeschlagenen Crewmitglied, entschließen wir uns, die nächsten beiden Tage nur in größerem Abstand zur Küste zu patrouillieren. Bei schlechterem Wetter machen wir auch keine weiteren Sichtungen. Unsere Rückfahrt verlängert sich durch die raue See mit Windstärke 6-8 und bis zu 4 Meter hohen Wellen gegen die wir anfahren müssen. So machen wir maximal 4,5-5kn Fahrt und haben das Gefühl dieser Trip endet niemals. 42 Stunden gegenan bei 3-4m hohen Wellen. Wir brauchen insgesamt knapp 50 Stunden, da wir nicht direkten Kurs fahren können. Neuer Negativrekord. Abgeschlossen wird der Einsatz durch die Einfahrt in Valletta Hafen. Dort steht ein riesiges Kreuzfahrtschiff mit Platz für über 3.000 Personen. Irgendwie liegt es hier an der falschen Stelle, denke ich mir...