So war das damals: Jugendsünden aus den 90ern

Berlin (dpa) - Radlerhose, Billig-Techno und Diddl-Maus: Die 90er Jahre waren gar nicht so cool. Zwei Autorinnen, deren Zahnspangen-Alter noch nicht lange her ist, rechnen mit ihren Jugendsünden ab.

Die Umkleidekabinen rochen nach „Vanilla Kisses“. Der Freund bekam als Liebesbeweis eine Diddl-Maus. Bei der Pyjamaparty knabberten die Gäste am Pizza-Baguette aus der Tiefkühltruhe. Für den Rausch gab es „Sauren Apfel“, der nach einer Mischung aus Trolli-Apfelringen und Scheibenenteiser schmeckte. So ist es in „Wir waren jung und brauchten das Gel“ nachzulesen, einem „Lexikon der Jugendsünden“, liebevoll zusammengetragen von den Journalistinnen Elena Senft und Lisa Seelig (beide Jahrgang 1979).

Schon wie beim acht Jahre älteren Florian Illies und seiner „Generation Golf“ ist viel frühe Nostalgie zu spüren - sind doch beide Frauen gerade mal Anfang 30. Doch während Illies' Bestseller klar eine westdeutsche Jugend aufgreift, spielt es jetzt keine Rolle mehr, wo die Autorinnen aufgewachsen sind.

Ob Ost oder West: Nach 1990 trugen Jugendliche überall Plateauschuhe oder klobige Dr. Martens und reisten aus der Provinz zur Love Parade nach Berlin. Im Fernsehen liefen der Talk mit Arabella und „Baywatch“, in der Stereoanlage Grunge-Rock von Nirvana (cool) oder der Kirmes-Techno von Scooter (uncool). Milli Vanilli kombinierten Radlerhose mit Schulterpolstersakko und sorgten für einen mittelschweren Skandal, als herauskam, dass das Duo gar nicht richtig sang.

Erwachsenwerden war nicht einfach. Die Jungs duschten mit „Cliff“, und vor dem Küssen sprühten sich Pärchen verstohlen „Odol“ in den Mund. Die „Bravo“ half mit Tipps zum richtigen Knutschen: „Tauch deine Zunge in die Mundhöhle des anderen ein und erforsch mit ihrer Spitze die Zahnreihen und den sensiblen Gaumen.“

Besonders stark ist das Jugendsünden-Lexikon, wenn es die speziellen Seiten der 90er Jahre aufgreift, etwa F wie Futon und dessen „mächtige Symbolkraft“: „Von nun an war man auch möbelmäßig voll darauf eingestellt, Sexualpartner über Nacht zu empfangen.“

Politik war damals für Jugendliche noch uninteressanter als in den 80ern. Der Kalte Krieg war vorbei. Wichtig war, die Serie „Beverly Hills 90210“ nicht zu verpassen, oder die richtige Jeans zu ergattern. „Mama will für die Hose nur was zuschießen. Ich halte das nicht mehr länger aus“, so ein Tagebucheintrag von 1990.

Es ist eine Dekade mit einem völlig anderen Medienverhalten als heute. Vor Handy, SMS und Facebook waren Brieffreundschaften wichtig - mit Hilferuf in der Annonce: „Mein Briefkasten verhungert!“. Unter viel Gelächter zitieren die Autorinnen bei einer Lesung aus einem Originaldokument von 1991. Die Verfasserin erzählt, dass sie ihr ganzes Geld für Zeitschriften ausgibt: „Ich kaufe mir jeden Monat 2 Bravos, 1 Popcorn, 1 Poprocky, 1 Girl, 1 Superpop, und da geht mein Geld weg.“ Damals ein obligatorisches P.S.: „Meine Hand tut weh vom vielen Schreiben“.

„Schön, dass wir nie wieder Teenager sein müssen. Aber schön auch, sich daran zu erinnern“, resümieren Lisa Seelig und Elena Senft. Interessant ist, was die Generation, die zehn Jahre jünger ist als die beiden, im Jahr 2021 einmal als Jugendsünde empfinden wird: „Germany's Next Topmodel“ gucken? Die Partyfotos bei Facebook? Oder den von Teeniestar Justin Bieber abgekupferten Topf-Schnitt?

Literatur:

Seelig, Lisa/Senft, Elena: „Wir waren jung und brauchten das Gel. Das Lexikon der Jugendsünden“. Fischer Taschenbuch Verlag, 243 Seiten, 8,99 Euro, ISBN-13: 978-3-596-18987-8