Sorgen um Kernkraftwerk Tihange 1 - Notabschaltungen und bedenkliche Vorfälle
Experten haben große Zweifel an der Sicherheit des maroden Meilers in Belgien nahe der deutschen Grenze.
Aachen/Tihange/Berlin. Der Meiler Tihange 1 gerät verstärkt in Kritik. Notabschaltungen, andere Vorfälle und damit verbundene Sicherheitsberechnungen im zweitältesten belgischen Atommeiler bereiten Experten und Politikern extreme Sorgen. Tihange 1 könnte nach Tihange 2 und Doel 3 nun zum nächsten atomaren Sorgenkind werden. Die beiden anderen Meiler sind seit Jahren wegen Tausender Wasserstoffflocken im Reaktordruckbehälter umstritten.
Tihange 1 gerät nun mehr als bislang in die Kritik, weil es von 2013 bis 2015 in dem Meiler, der Luftlinie nur 60 Kilometer von Aachen entfernt ist, acht sogenannte Precursor-Ereignisse gegeben habe. Das bestätigte die belgische Atomaufsichtsbehörde FANC auf Anfrage. Precursor-Ereignisse sind Vorfälle in Kernkraftwerken, die die Wahrscheinlichkeit für einen Kernschaden erhöhen, wie die Gesellschaft für Reaktorsicherheit erklärt. Von den 14 Fällen in allen sieben belgischen Atommeilern betreffen acht Tihange 1, wie aus einem FANC-Dokument hervorgeht, das die Grünen angefragt haben. Eines dieser acht Ereignisse war die Notabschaltung des Meilers aufgrund eines Brandes im nicht-nuklearen Bereich des Geländes.
Der Vorfall vom Dezember 2015 wurde später einer Precursor-Analyse unterzogen. Dort werden die schlimmsten Szenarien berechnet, die ausgehend von dem Brand hätten passieren können. In acht Fällen wurden die Analysen als gefährlich, sprich als Precursor-Ereignisse, eingestuft.
„Wenn wir sagen: ,Tihange abschalten’, meinen wir immer das ganze Kraftwerk, nicht nur den Riss-Reaktor“, sagt Aachens Oberbürgermeister Marcel Philipp (CDU) . Er fühle sich durch die neuen Erkenntnisse in seiner Argumentation für das komplette Abschalten bestätigt. Der Betreiber hält dagegen: „Wäre Tihange nicht sicher, wären die Meiler abgeschaltet“, sagt Engie-Electrabel-Sprecherin Anne-Sophie Hugé. „Es geht bei den Analysen um Risikomanagement, nicht um tatsächliche Vorfälle“, betont auch der FANC-Sprecher Erik Hulsbosch. Warnung vor einer Gefahr seien typisch deutsche Panikmache. „Tihange 1 ist nicht gefährlich. Natürlich gibt es kein AKW, das ohne Risiko läuft.“
Doch im gleichen Zeitraum — 2013 bis 2015 — gab es zudem sechs Notabschaltungen in Tihange 1. Es sei schon erschreckend, dass sich beide sicherheitsrelevanten Zahlen in Tihange 1 häufen, sagte der Dürener Bundestagsabgeordnete Oliver Krischer (Grüne). Experten bestätigen die Sorgen der Grünen: Der Meiler entspreche nicht mehr den gültigen Sicherheitsstandards und würde heutzutage keine Betriebserlaubnis erhalten, sagt Professor Manfred Mertins, Reaktorsicherheitsexperte. „Tihange 1 ist vollkommen überaltert.“ Insbesondere vor dem Hintergrund seien die Precursor-Ereignisse oder vielmehr noch die tatsächlichen Vorfälle, die die Analysen nötig machen, alarmierend.
Experten des Bundesumweltministeriums erklärten am Donnerstag, dass die Zahl der Precursor-Ereignisse nichts über die Sicherheit des Blocks aussage. Dennoch sind auch sie der Ansicht, dass Tihange 1 allein wegen seines Alters vom Netz müsse. Die ursprünglich angedachte Maximallaufzeit von 40 Jahren hatte Tihange 1 tatsächlich bereits 2015 erreicht. Die Regierung hatte aber eine Laufzeitverlängerung bis 2025 beschlossen. Das hatten Umweltverbände und Politiker mehrfach bemängelt. „Schon lange steht auch der Altreaktor Tihange 1 in der Kritik. Die belgischen Behörden dürfen sich nicht weiter blind stellen. Der Schrottmeiler muss zum Schutz der Bevölkerung endlich vom Netz“, sagte Rebecca Harms, atompolitische Sprecherin der Grünen im Europäischen Parlament.