Tiefe Einschnitte ins Leben
Laura ist krank. Wenn die Wut in ihr zu stark wird, greift sie zur Rasierklinge und verletzt sich schwer.
Mönchengladbach. Laura möchte sprechen. Über ihre Krankheit, den Hass, den sie auf sich selbst spürt und die Verletzungen, die sie sich zufügt. "Aber wenn ich zum Gespräch komme, bringe ich die Rasierklingen mit. Die muss ich in der Nähe haben, zur Sicherheit", sagt die 26-jährige Studentin aus Mönchengladbach.
Laura klingt unsicher, als sie sich an den Tisch in eine Ecke des Cafés setzt. Sie guckt starr geradeaus, dann zeigt sie, wozu sie die Klingen braucht: Ihre Arme, Beine und ihr Bauch sind übersät mit tief vernarbten Wunden. Laura kann nicht aufhören, sich die Haut aufzuschlitzen und sich tiefe Schnitte zuzufügen. Sie leidet unter dem Borderline-Sydrom
"Meistens treten Selbstverletzungen durch Rasierklingen, Haareausreißen oder Augenbohren während der Pubertät auf, wenn die eigene Identität im Chaos versinkt", sagt Dr. Ingo Spitczok von Brisinski. Er ist Chefarzt der Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Klinik Viersen des Landschaftsverband Rheinland. "Es ist für die Betroffenen eine Lösung, um mit Leistungsdruck und Problemen zurechtzukommen", sagt er. Bei einigen Jugendlichen verschwinden die Symptome von alleine, andere benötigen eine Therapie - wie Laura.
Die Studentin ist 26, wirkt aber wie 18. Vielleicht liegt es an ihren langen braunen Haaren, den weichen Gesichtszügen, den großen blauen Augen und der makellosen Haut. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass sie im Gespräch nicht erwachsen, sondern wie eine unsichere, verletzliche Jugendliche wirkt. "Diese Welt ist irgendwie nichts für mich. Es passiert zu viel um mich herum, dass ich es gar nicht alles aufnehmen kann", sagt sie und beschreibt, dass sie sich im Inneren "einfach nur leer" fühlt.
Um ihre Mutter nicht dauernd weinend zu sehen, hat sie mit aller Kraft versucht, die Rasierklingen nicht mehr anzufassen. "Dass sie mir Schmerzen bereiten, interessierte mich nicht, das tat gut, um mich abzulenken", sagt sie. Laura erzählt, dass sie sich oft hasst. Für ihr gutes Aussehen, das so gar nicht zu der Leere in ihr passt, für ihre Noten, die immer über dem Durchschnitt liegen. "Eigentlich für alles." Dieser Selbsthass ist bei Laura kein vorübergehendes Problem, sondern eine tief verwurzelte, chronische Krankheit.
"Generell sind alle Gefühlslagen eines Menschen, der ritzt, sich die Haare ausreißt oder den Kopf gegen etwas schlägt, auch in der Psyche eines gesunden Menschen verankert", sagt Spitczok von Brisinski. "Sicher hat sich schon jeder - etwa nach einer Trennung - extrem leer oder verlassen gefühlt." Im Gegensatz zu gesunden Menschen überschreiten diese psychisch kranken Menschen mit ihren Gefühlen jedoch eine Grenze. "Die Art, wie sich verletzen, steht in keinem Verhältnis mehr zu der eigentlichen Situation", sagt der Arzt.
Bei Laura begann es im ersten Semester ihres Studiums. Einige Studentinnen hatten sich verabredet und Laura nicht angerufen. "Ich habe mich dafür gehasst, weil ich gedacht habe, dass ich alles falsch gemacht hätte. Zur Strafe schlitzte sie sich die Arme auf. Objektiv betrachtet hatten die fast unbekannten Mitstudentinnen keinerlei Einfluss auf ihr Leben, ein trotziges "Dann eben nicht" hätte sicher gereicht. Doch Laura empfand das Desinteresse der Kommilitoninnen aber als existenziell. "Mein ganzes Ich klappte zusammen", sagt sie.
Diese Zusammenbrüche erlebt sie oft, wenn sie Situationen überfordern. Wie vor einigen Monaten: Da machte ihr Freund Schluss. Laura schnitt sich so tief in den Fuß, dass sie ihre Sehnen verletze. Am Morgen ging es weiter: "Ich wachte mit einer solchen Wut auf und schnitt los." Der Schmerz beruhigte sie.
Seit einem Monat ist Laura in Therapie. Weil sie ihre innere Leere nicht mehr aushielt und ihr Hass auf sich so stark wurde, dass sie jeden Tag einen Wutanfall erlitt. "Es ist sicher noch ein langer Weg mit anstrengenden Gesprächen mit meinem Psychiater. Aber ohne diese Hilfe müsste ich mich jetzt schon wieder schneiden." Heute hilft es meistens, die Klingen einfach dabei zu haben.