Türmerin Martje Saljé: „Ich tröte nicht, ich tute“
Europas älteste Türmer-Stelle hat seit Jahresbeginn eine Frau inne. Abendlicher Aufstieg mit Martje Saljé.
Düsseldorf. Am Prinzipalmarkt in Münster hört man nach Einbruch der Dunkelheit den Nachtwächter tönen: „Dort oben wohnt jetzt ein Weib, nun wird es wohl ein Ende haben mit Sauferei und Orgien.“ Dabei zeigt er in Richtung des Turms der Lambertikirche.
Was hat es mit diesen Worten auf sich? Des Rätsels Lösung ist alles andere als alltäglich. Auf besagtem Kirchturm befindet sich ein kleines Zimmer, von dem aus an sechs Abenden in der Woche einer der ältesten Berufe, die urkundlich verbürgt sind, ausgeübt wird — der Job eines Türmers, besser: einer Türmerin. Zu Jahresbeginn hat sich erstmals eine Frau in die Männerdomäne vorgewagt, eine junge obendrein. Und die ist hellauf begeistert von ihrer Tätigkeit.
Martje Saljé entstammt einem alten hugenottischen Adelsgeschlecht. Auch sonst bedient die 33-Jährige nicht gerade den zeitgenössischen Mainstream. „Ich habe meine Bestimmung gefunden“, sagt sie und spricht von „Berufung statt Beruf“. Verdutzte Rückfrage: Tröten als Lebensaufgabe? „Ich tröte nicht, ich tute — und zwar in ein Türmerhorn.“ Das höre sich wohl ein bisschen an wie ein Nebelhorn und eigne sich auch nicht für Melodien, „aber es ist altehrwürdig. Schon im 16. Jahrhundert wurde ein solches Horn verwendet.“
Martje Saljé meint es ernst. Jeden Abend um kurz nach halb neun schließt sie die unscheinbare Pforte neben dem Portal der Lambertikirche auf und steigt im Treppenturm mit seinen sich heftig windenden 298 Stufen hinauf zu ihrem Arbeitsplatz in 75 Metern Höhe. Da sind Kondition und Trittsicherheit gefragt.
Um 20.45 Uhr meldet Saljé der Feuerwehr, dass sie oben angekommen ist. Und um Punkt neun stößt sie ins Horn, allerdings nur in drei Himmelsrichtungen je neunmal. „Es heißt, einst habe sich ein einflussreicher Patrizier, der schlafen wollte, die Ruhestörung verbeten“, erzählt die Türmerin. Seitdem werde in die Richtung, in der er wohnte, nicht mehr getutet.
Mit Geschichte und Geschichten kennt sie sich aus. Stadthistorie war eine wichtige Voraussetzung, um den Job im Turm zu bekommen. „Ich fühlte mich regelrecht berührt, als ich das Stellengesuch las“, erinnert sich die Musikwissenschaftlerin und Multiinstrumentalistin aus Oldenburg, die jahrelang mit Bands getourt ist. Die Fähigkeit zum Alleinsein, die verlangt wurde, bringt sie jedoch mit, da ist sie sich sicher. „Mit jeder Stufe lasse ich die Welt ein Stückchen mehr hinter mir. Ich genieße die Einsamkeit.“
Und wie verbringt die junge Frau die Zeit bis zum Dienstende um Mitternacht? „Ich muss ja noch zu jeder halben Stunde zweimal ins Horn stoßen“, wendet sie augenzwinkernd ein. In der Zeit zwischen ihren Einsätzen auf der Brüstung des Turms liest sie, spielt auf ihrer Gitarre oder komponiert. Erstes Ergebnis ist ein Werk für Türmerhorn, zwei Kontrabässe — und Nachteulen, womit Kneipengänger gemeint seien, deren Lärm man bis zum Turmzimmer höre. Ernst gemeint? „Aber sicher.“
Einen Fernseher gibt es in der 15 Quadratmeter kleinen Kammer nicht, eine Toilette übrigens auch nicht. Und Besuch ist im Türmerzimmer, das der Stadt einst von der Kirche überlassen wurde, um die Ratsglocke läuten zu können, strengstens verboten. Doch die Gegenwart ist nicht nur in Form von Erste-Hilfe-Kasten und Feuerlöscher sichtbar, auch ins Internet kommt man hier oben. „Ich schreibe im Türmer-Blog, und bald werden wir auch einen Facebook-Account haben“, sagt Martje Saljé. Organisiert ist die Berufsgruppe in der Europäischen Türmer- und Nachtwächterzunft.
Trotz ihrer wichtigen Aufgabe, die Stadt vor Feinden und Gefahren zu warnen, hatten die Türmer früher alles andere als einen guten Ruf. „Sie standen auf einer Stufe mit den Henkern“, weiß Saljé. Heute befördert die Türmerin eher das Stadtmarketing.
Sie wolle bis zum Rentenalter Türmerin bleiben, schon um es den Kritikern zu zeigen, die einen Kandidaten aus Münster und einen männlichen dazu bevorzugt hätten. Dabei kann man sich kaum eine bessere Besetzung für Europas älteste Türmerstelle, die seit 1383 bezeugt ist, vorstellen.
„Ich bin eine arme, aber sehr glückliche Türmerin“, meint Martje Saljé, die tagsüber in einer Bank jobbt. „Wenn ich bei gutem Wetter bis zum Teutoburger Wald blicken kann oder bei Nebel die Türme des nahen Doms verschwinden sehe, dann weiß ich, dass ich am richtigen Ort bin.“
Die Antwort auf die Frage, warum sie nur an sechs Abenden Dienst schiebt, steht noch aus. Sie ist einfach: Dienstags hat die Türmerin ihren freien Tag, dann tutet eine Vertretung — wie auch während der Urlaubstage. Alles muss seine Ordnung haben, schließlich ist die Türmerin von Münster Angestellte im öffentlichen Dienst. Denn der Sound von St. Lamberti ist längst ein Markenzeichen der Bischofs- und Universitäts-Stadt.