Gerichtsurteil Vierjähriger in Sack erstickt - Mutter von Mordvorwurf freigesprochen
Ein vierjähriger Junge soll qualvoll in einem Sack erstickt sein. Gut ein Jahr nach Prozessbeginn wird seine Mutter vom Vorwurf des Mordes freigesprochen - mangels Beweisen.
Im Prozess um den Tod eines Vierjährigen, der in einem über dem Kopf verschnürten Sack erstickt sein soll, hat das Landgericht Hanau die Mutter des Kindes vom Vorwurf des Mordes freigesprochen. Für den von ihr erlittenen Freiheitsentzug sei die 61-Jährige zu entschädigen, sagte die Vorsitzende Richterin am Dienstag. Aus ihrer Sicht ließ sich während des gut einjährigen Prozesses nicht nachweisen, dass die Frau die ihr Tat begangen hat. Wenn die in rechtsstaatlichen Strafverfahren vorgegebene Unschuldsvermutung nicht widerlegt werden könne, seien Angeklagte freizusprechen.
Der Junge starb bereits 1988. Eine mutmaßliche Sekten-Chefin soll laut Anklage der Mutter eingeredet haben, dass ihr Sohn die „Reinkarnation Hitlers, ein Machtsadist und von den Dunklen besessen“ sei und mehrfach prophezeit haben, dass Gott den Jungen zu sich holen werde. Zeugen hatten zudem von massiver physischer und psychischer Gewalt im Haus der mutmaßlichen Anführerin sowie von einer Art System aus Bestrafungen, Erniedrigungen und devotem Verhalten auch der erwachsenen Mitglieder der Gruppe berichtet.
Die Vorsitzende Richterin stellte in ihrer Urteilsbegründung an die Mutter gewandt fest: „Am Ende bleibt es bei einer moralischen Verantwortung.“ Die Angeklagte verfolgte die Worte der Vorsitzenden äußerlich reglos. In Betracht gekommen wären nach deren Worten auch andere Vorwürfe wie Misshandlung von Schutzbefohlenen durch Unterlassen, die aber aufgrund der langen Zeit, die seit dem Tod des Kindes vergangen ist, verjährt seien.
Der Junge soll am 17. August 1988 in einem über dem Kopf verschnürten Sack an seinem Erbrochenen erstickt sein. Die Staatsanwaltschaft hatte der Frau vorgeworfen, ihren Sohn in den Sack gesteckt, diesen oben verschnürt und das Kind in die Obhut der mutmaßlichen Sekten-Anführerin gegeben zu haben. Diese habe nach dem Leben des Jungen getrachtet.
Aus Sicht des Gerichtes fehlten dafür und für weitere in der Anklage angeführte Sachverhalte jedoch Beweise - auch weil Zeugenaussagen teils lückenhaft und widersprüchlich gewesen seien. So gebe es keinen Beleg dafür, dass das Kind tatsächlich, wie in der Anklage angenommen, am Tattag vor 34 Jahren den ganzen Vormittag über geschrien habe.
Weder mit Zeugenaussagen noch anhand von Äußerungen der 61-Jährigen in ihrem Tagebuch, wonach der Junge selbst seinen Tod verschuldet habe, lasse sich ein Tatvorsatz belegen, sagte die Vorsitzende. Es blieben erhebliche Zweifel an einer strafrechtlichen Verantwortlichkeit der Angeklagten, was keine andere Entscheidung als einen Freispruch zulasse.
Gleichwohl müsse sich die Frau damit auseinandersetzen, dass ihr kleiner Sohn ein zweijähriges Martyrium im Haus der mutmaßlichen Sekten-Chefin erlebt habe, der er schutzlos ausgeliefert gewesen sei. Es wäre ihre Verantwortung als Mutter gewesen, den Jungen aus dieser Situation herauszuholen und ihn zu beschützen, betonte die Vorsitzende Richterin.
Bereits vor rund zwei Jahren war in dem Fall die mutmaßliche Sekten-Anführerin wegen Mordes verurteilt worden, doch hatte der Bundesgerichtshof diese Entscheidung im Mai dieses Jahres aufgehoben und das Verfahren zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an eine Schwurgerichtskammer des Landgerichts Frankfurt verwiesen. Ein Verhandlungstermin steht noch nicht fest.
Mit der Entscheidung folgte das Gericht dem Plädoyer der Verteidigung, die einen Freispruch für die Frau gefordert hatte. Dagegen hatte die Staatsanwaltschaft auf eine lebenslange Freiheitsstrafe wegen gemeinschaftlichen Mordes sowie auf die Verhängung eines neuen Haftbefehls gegen die Frau plädiert.
Der Staatsanwaltschaft, die das Gericht vor einigen Monaten wegen Befangenheit abgelehnt hatte, weil die Richter aus ihrer Sicht zugunsten der Angeklagten voreingenommen seien, warf die Richterin in ihrer Urteilsbegründung ein rechtsstaatlich bedenkliches Verhalten vor. Statt nach dem Grundsatz „im Zweifel für die Angeklagte“ habe die Anklagebehörde nach dem Grundsatz gehandelt, dass „nicht sein kann was nicht sein darf“. Oberstaatsanwalt Dominik Mies wollte dies nach der Urteilsverkündung nicht näher kommentieren, machte aber deutlich, dass er die Entscheidung überprüfen lassen will. Die vom Gericht dargelegten Urteilsgründe seien für die Staatsanwaltschaft „nur schwer nachvollziehbar“, sagte Mies.