Auto rast in Menschenmenge Volkmarsen ringt nach Rosenmontags-Schock um Normalität

Volkmarsen/Frankfurt · Ein Auto rast in eine Menge - im nordhessischen Volkmarsen herrschen Schock und Trauer. Es ist die zweite erschütternde Tat innerhalb weniger Tage im Bundesland. Am Faschingsdienstag wird vielerorts dennoch gefeiert. Eine gute Entscheidung, sagt ein Angstexperte.

Am Vortag war Mann mit seinem Auto in einen Karnevalsumzug gerast und hatte dabei zahlreiche Menschen, darunter auch Kinder, verletzt. Die Frankfurter Generalstaatsanwaltschaft ermittelt wegen eines versuchten Tötungsdelikts.

Foto: dpa/Uwe Zucchi

Der Wind zerrt an den Planen, die den Tatort in Volkmarsen vor Blicken abschirmen sollen. Überall im Ortskern stehen noch Polizeiwagen. Einsatzkräfte sind an diesem Dienstagmorgen kaum auf der Straße - ebenso wie Bewohner. Einen Tag nach dem Vorfall, bei dem ein Auto in eine feiernde Menschenmenge raste, ist die Kleinstadt weit entfernt von Normalität.

Das Auto war beim Rosenmontagszug in die Menge gefahren. Am Steuer saß ein 29 Jahre alter deutscher Staatsbürger, der aus Volkmarsen kommt. Er wurde festgenommen. Sein Motiv ist auch am Dienstag noch unklar. Die Zahl der Verletzten stieg bis zum frühen Nachmittag auf fast 60, die Zahl der verletzten Kinder lag bei 18.

Erst vergangene Woche hatte der mutmaßlich rassistische Anschlag in Hanau die Menschen weit über die Landesgrenzen hinaus erschüttert. Ein 43 Jahre alter Deutscher erschoss in der Nacht auf Donnerstag neun Menschen mit ausländischen Wurzeln. Der Sportschütze soll auch seine 72 Jahre alte Mutter und sich selbst getötet haben. Am Montag hatte der Abschied von den Opfern begonnen, in Offenbach wurde eine zweifache Mutter beigesetzt und in Hanau ein 23-Jähriger. Zahlreiche Menschen gedachten auf dem Hanauer Marktplatz bei einem öffentlichen Gebet der Opfer.

Taten beeinflussen auch das Sicherheitsgefühl der Menschen

Taten wie in Volkmarsen und in Hanau beträfen massiv das grundlegende Sicherheitsgefühl der Menschen, sagt der Essener Angstexperte Christian Lüdke. „Das erste Mal drastisch gesehen haben wir das nach den Terroranschlägen in New York, dass wir im Grunde genommen nirgendwo sicher sind.“ Es folgten Anschläge unter anderem in Fußgängerzonen, auf Weihnachtsmärkten und Konzerten.

Nach Taten wie in Volkmarsen und Hanau entstehe jeweils ein neuer Fokus, auf den sich Aufmerksamkeit und Angst ausrichteten. Dies sei aber nur vorübergehend. Und sollte niemanden abhalten, „genau die Dinge zu tun, die wir geplant haben, mit den Kindern rausgehen, zum Umzug gehen oder zu einem Konzert“, wie Psychotherapeut Lüdke sagt.

Soll man trotz der schrecklichen Bilder aus Volkmarsen feiern? Diese Frage treibt am Faschingsdienstag Sicherheitsbehörden und Veranstalter in Hessen um. Am Vormittag entscheidet das Innenministerium, die Umzüge können starten. Es gebe keine konkreten Hinweise darauf, dass sich die Gefährdungslage erhöht habe.

In einigen Städten gibt es Absagen, in anderen herrscht buntes Treiben wie geplant. Am frühen Nachmittag setzt sich der traditionelle Umzug im Frankfurter Stadtteil Heddernheim („Klaa Paris“) in Bewegung. „Wir lassen uns in dieser Stadt von nichts und niemandem einschüchtern“, ruft Oberbürgermeister Peter Feldmann (SPD) den Narren zu. Die Tat in Volkmarsen sei Anlass vieler Gespräche gewesen, sagt Isabelle Stefan von den „Heddemer Käwwern“, einem der teilnehmenden Vereine. Doch man müsse weiterleben. Der Umzug sei außerdem gut gesichert.

Kriminalexperte und Psychotherapeut Lüdke sagt, Ängste würden durch Vermeidung schlimmer. „Am Ende hat man Angst vor der Angst.“ Daher wäre es grundverkehrt, jetzt das Haus nicht mehr zu verlassen. Was man auch nicht tun sollte: Zu viele Bilder oder Videos der Taten anzusehen. „Wenn ich mir permanent diese Bilder anschaue, und wir werden damit ja ganz extrem konfrontiert, manchmal sogar in Echtzeit, kann das dazu führen, dass vollkommene Unbeteiligte an ihren Bildschirmen genauso hoch belastet werden wie direkt vor Ort Betroffene.“

Falschnachrichten und Spekulationen heizen Ängste an

Spekulationen in sozialen Medien heizten Unsicherheit und Ängste zusätzlich an. Lüdke empfiehlt, seriöse Nachrichtenquellen zu nutzen. Solche Informationen, auch auf den Internetseiten der Polizei, gäben Sicherheit. Bereits in der Nacht zum Dienstag hatten die Beamten in Nordhessen dazu aufgerufen, keine Falschnachrichten zu teilen.

In Volkmarsen waren am Abend nach der Tat Spezialkräfte zweimal in Häuser im Ortskern vorgedrungen. Die Gebäude werden weiter von der Polizei abgeschirmt. Wer da wohnt? Keine Ahnung, sagt ein Anwohner. Der Name des Tatverdächtigen kursiert im Ort. Doch er kenne den Mann nicht.

An der Haupt- und Realschule der Kleinstadt findet kein Unterricht statt. Das sei länger geplant gewesen und habe nichts mit dem Ereignis des Vortags zu tun, heißt es von der Schule. Darüber hinaus dürfe man nichts sagen. Auch aus dem Rathaus gibt es zunächst kein Statement. Der Bürgermeister sei nicht zu sprechen.

Einer der wenigen, die etwas sagen, ist der katholische Pfarrer Martin Fischer: „Die Volkmarser haben einen sehr guten Zusammenhalt. Ich denke, dass dieser Zusammenhalt nicht durch die Tat beschädigt wird“, erklärt er. Die Einwohner gingen unterschiedlich mit dem Erlebten um. Die einen wollten darüber sprechen, die anderen zögen sich zurück.

Im katholischen Kindergarten gebe es bereits ein Hilfsangebot: „Gemeindereferenten bieten Gespräche für Eltern an.“ Und die Kinder? „Ich denke schon, dass wir das noch aufarbeiten müssen“, sagt Fischer. Für den Abend war ein ökumenischer Gottesdienst geplant. „Wir sind Volkmarsen, wir halten zusammen und wir stehen in dieser schweren Stunde zusammen“, schreibt der Vorsitzende der Karnevalsgesellschaft Volkmarsen, Christian Diste, auf Twitter.

(dpa)