Von wegen Heiligabend! Der frühe Baum ist im Kommen

Düsseldorf/Köln (dpa) - In vielen Wohnzimmern sieht man jetzt schon Weihnachtsbäume stehen. „Ein Drama unserer Zeit“, meint Brauchtumsexperte Becker-Huberti. Doch Frau Brunzema aus Düsseldorf sagt: „Ist doch viel gemütlicher so.“

Bei Familie Brunzema in Düsseldorf brennen die Kerzen am Weihnachtsbaum schon seit dem 4. Dezember. „Wir machen das seit circa zwölf Jahren“, sagt Wiebke Brunzema (44), Biologin und Mutter von zwei Kindern. „Weil es mit den leuchtenden Christbäumen einfach gemütlicher ist. Außerdem sehen unsere Kinder morgens im Strahlen der künstlichen Birnchen viel freundlicher und besser gelaunt aus als sie es in Wirklichkeit sind.“

So wie die Brunzemas halten es inzwischen viele. Von wegen Warten bis Heiligabend, verschlossene Tür, Glöckchenbimmeln und so weiter. Kaum ist St. Martin vorbei, wird auch schon der Baum aufgestellt. Für die einen ist das einfach nur schön, für die anderen die Entwurzelung der jahrhundertealten deutschen Christbaumtradition.

Bei den Brunzemas kam der Wechsel zum „early tree“ (frühen Baum) „ganz spontan, ohne tiefere Hintergedanken“. Alle waren direkt dafür. Es gibt zwei Bäume: einen im Wohnzimmer und einen im Schlafzimmer.

„Der einzige Nachteil ist, dass die Bäume an Heiligabend schon sehr fertig aussehen, vertrocknet und irgendwie müde. Aber darüber schauen wir alle geübt hinweg“, versichert Mutter Wiebke. Echte Kerzen empfehlen sich da eher weniger. „Obwohl so eine richtig gute Zwei-Sekunden-Baumverpuffung bestimmt auch einen gewissen Unterhaltungswert hat.“ Rheinischer Humor!

Auch Christine Jackson (35) mag sich die Adventszeit ohne Baum nicht mehr vorstellen. Sie ist mit einem Amerikaner verheiratet und hat selbst lange in den USA gelebt. „In Amerika wird der Weihnachtsbaum traditionell nach Thanksgiving aufgebaut, und Thanksgiving ist am letzten Donnerstag im November.“ Freunde und Verwandte reagieren häufig verwundert, die Jacksons müssen sich rechtfertigen. Aber für Brian (38) ist die Sache klar: „Anfang Januar bin ich nicht mehr in Weihnachtsstimmung.“

Experten halten das Phänomen des frühen Baums für relativ einfach erklärbar. „Es ist typisch für das Brauchtum insgesamt, dass es sich vorverlagert“, erläutert die Volkskundlerin Katja Wehse. „Weil es einem so gut gefällt, will man's schon eher haben.“

Medien und Werbewirtschaft verstärken dies noch, meint der Psychologe Prof. Peter Walschburger von der Freien Universität Berlin. „Die verlagern es ja schon lange vor, und viele folgen jetzt auch im Privaten. Das ist Stufe 2 dieser Eskalation.“ Er persönlich macht da nicht mit: „Wir feiern Weihnachten an Weihnachten.“

Auch der Brauchtumsexperte und Buchautor Manfred Becker-Huberti sieht die Entwicklung kritisch. „Wir haben das Warten verlernt“, meint er. „Das Warten im positiven Sinne: Das Sich-Ausmalen, wie es sein wird. Vorfreude kann doch viel schöner sein als das Ereignis selbst.“ Für ihn ist der frühe Baum Symptom einer viel breiteren gesellschaftlichen Strömung: „Wir haben für unser Leben die Regeln der Wirtschaft übernommen, nach denen wir alles hier und sofort haben müssen. Das ist ein Drama unserer Zeit.“

Wiebke Brunzema sieht die Sache eher praktisch. „Wenn Heiligabend Vater und Mutter streiten, welcher der übrig gebliebenen Krüppel gekauft werden soll, wo der verflixte Christbaumständer letztes Jahr verstaut wurde, wer die Weihnachtskugeln vom Dachboden holt und ob die Kinder des Stresses wegen schon um 9 Uhr "Wir warten aufs Christkind" gucken dürfen, sitzen wir entspannt vor unserem Baum, legen die Füße hoch und essen Mengen von Plätzchen, so dass wir uns auch noch das stressige Abendessen sparen können.“