Wallfahrt: Das Wunder von Gonesse
In einem Pariser Vorort tropft Öl aus einer Marien-Ikone.
Paris. Seit einigen Wochen hält ein Wunder die Pariser Vorstadt Garges-lès-Gonesse in Atem: Ein dreißig mal zwanzig Zentimeter großes Jungfrauen-Bildnis verwandelt einen Bungalow an der Rue Jean Moulin in einen Wallfahrtsort.
Wildfremde Leute stehen plötzlich im Wohnzimmer der Familie Altindagoglu und nähern sich andächtig der Ikone, die an der Wand hängt. Dann schlagen sie Kreuze, gehen in die Knie und schicken ein Stoßgebet gen Himmel. Manche bringen Rosen mit und zünden Kerzen an, andere lassen Bilder, Geldscheine und Rosenkränze zurück.
Schon mehr als 5000 Menschen sollen inzwischen in den Vorort gepilgert sein. "Am letzten Sonntag kamen sogar 500 an einem Tag", sagt Hausherr Esat Altindagoglu (46), ein aus der Türkei stammender Kaufmann, der dem griechisch-orthodoxen Glauben anhängt.
Seine Frau Sevim hatte die Ikone vor vier Jahren von einem libanesischen Priester gekauft. Am 12. Februar - mit Beginn der Fastenzeit - passierte das Unfassbare. "Ich betete, da liefen plötzlich Tränen aus ihrem rechten Auge", berichtet die Hausherrin und zückt zum Beweis ein Foto, das sie gleich danach aufgenommen haben will.
Würden die Altindagoglus von jedem Besucher ein kleines Entgelt verlangen, dann könnten sie sich bald einen nagelneuen Kleinwagen anschaffen. Aber sie verlangen nichts, geben oft sogar noch eine Tasse Kaffee. "Unser Haus steht allen offen", betont der Hausherr. Und so herrscht seit Wochen ein ständiges Kommen und Gehen.
Handelt es sich um ein echtes Wunder? Oder ist es nur eine alberne Täuschung, so wie die berühmten Jesus-Gesichter im Toastbrot? Nun, während die Apostolischen Glaubenshüter in Rom derartige Erscheinungen einer jahrelangen Prüfung unterziehen, ist der Erzbischof von Antiochien, zuständig für die orthodoxe Christenheit in Westeuropa, bereits weiter. In einer in Paris verbreiteten Mitteilung spricht er von einer "wundersamen Erscheinung" und bestätigt, dass auf "unerklärliche Weise" Öl aus der Ikone herausläuft.
Stolz öffnet Esat Altindagoglu den Wohnzimmerschrank und zeigt den Plastikbecher. Der enthält ungefähr zwei Schnapsgläser Marientränen, die so grün sind wie Olivenöl. Jeder Besucher darf einen Baumwollfaden mitnehmen, der einen Tropfen des "heiligen" Öls enthält.
Das Mystische an der Marien-Ikone hat in den letzten Tagen geradezu exponentiell zugenommen. So erzählt man sich Geschichten wie die einer Frau, deren Kinderwunsch sich nie erfüllte. "Seit sie jedoch ihren Bauch mit dem Öl berührte, ist sie schwanger", sagt Altindagoglu.
Ob Wunder oder nicht: Die Besucher - darunter auch Muslime und Buddhisten - finden in der Rue Jean Moulin alles Mögliche: Trost, Stärkung des Glaubens, Hoffnung. "Liebe Mutter Gottes", hat eine gewisse Florence ins Gästebuch geschrieben, "mach’, dass Mama nicht mehr am Herzen leidet und dass Jean-Claude ein nettes Mädchen findet."