Dreißigjähriger Krieg Wie ein Fenster Weltgeschichte schrieb

Prag (dpa) - Man muss den Kopf weit nach oben recken, um das Fenster zu sehen. „Es ist das berühmteste in Europa“, sagt eine Reiseleiterin einer Gruppe von Touristen. Die dramatischen Ereignisse hier auf der Prager Burg haben es jedenfalls in die Geschichtsbücher geschafft.

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Vor 400 Jahren, am 23. Mai 1618, warfen protestantische Böhmen die beiden kaiserlichen Statthalter Jaroslav Borsita von Martinitz und Wilhelm Slavata sowie der Kanzleisekretär Philipp Fabricius kurzerhand aus dem Fenster. Es war der Beginn des Dreißigjährigen Krieges zwischen Katholiken und Protestanten.

Wer sich heute vor dem Ludwigsflügel des Alten Königspalasts umsieht, kommt aus dem Staunen nicht mehr heraus. Denn die drei nach kurzem Prozess zum Tode Verurteilten überstanden den Zweiten Prager Fenstersturz weitgehend unversehrt. Ein Kreuz markiert die Stelle, an der sie wieder auf der Erde landeten.

Doch wie lässt sich ein Sturz aus solch schwindelerregender Höhe überleben? Slavata gab diese später mit 28 Prager Ellen an - mehr als 16 Meter. Wurden die drei am Ende doch von Engeln abgefangen, wie es zeitgenössische Darstellungen nahelegen? Fielen sie in einen Misthaufen, wie es missgünstige Protestanten später behaupten sollten?

Doch nicht alles ist so, wie es auf den ersten Blick scheint. „Heute würden sie den Sturz nicht überleben, selbst die Jungfrau Maria könnte ihnen da nicht mehr helfen“, sagt Petr Kroupa, der das Denkmalschutzamt der Burg und des tschechischen Präsidialamts leitet. Das Gelände unterhalb des Fensters habe früher völlig anders ausgesehen. „Hier war ein steiler Hang, den sie dann heruntergerutscht sind, wodurch ihr Fall abgebremst wurde“, sagt der Kunsthistoriker. Möglicherweise war der Fenstersturz also mehr ein -rutsch. Besonders dreist: Unten angekommen liefen die drei noch einmal zurück ins Burggelände, um im Haus der Familie Lobkowitz, heute ein Museum des Adelsgeschlechts, Asyl zu finden.

Es war der slowenische Architekt Joze Plecnik, bekannt für die markante Dreierbrücke Tromostovje in Ljubljana, der das Gelände Anfang des 20. Jahrhunderts auffüllen ließ. Er schuf eine große Gartenterrasse mit einem bezaubernden Ausblick auf Prag und fügte moderne Elemente wie Pyramiden und Granitbalken ein. Die Umgestaltung mit ihrer Abkehr vom monarchisch-dekorativen habe auch Ausdruck der neuen Demokratie sein sollen, erläutert Kroupa.

Im zweiten Stock des Königspalastes drängeln sich Touristen aus aller Welt vor dem Fenster, das für den Beginn eines schrecklichen Krieges steht. Denn mit dem Prager Fenstersturz begann ein Religionskrieg, der am Ende ganz Europa erfasste. Bis auf die Möbel sei an dem geschichtsträchtigen Ort alles mehr oder weniger wie vor 400 Jahren, versichert Kroupa. Es grenzt an ein Wunder. Doch nach dem Tod Rudolfs II.( 1552-1612) zog die Habsburger-Residenz von Prag nach Wien. Die Säle wurden nur noch selten benötigt und fielen in einen langen Dornröschenschlaf.

Wie der Fenstersturz endete auch der Aufstand der protestantischen Stände in Böhmen gegen die katholischen Habsburger in einem Misserfolg. „Der nationale Mythos des 19. Jahrhunderts spricht vom Verlust der tschechischen Unabhängigkeit, von der Germanisierung“, sagt Kroupa. Doch die nachfolgenden Jahrhunderte nur als „dunkle Zeit“ abzutun, wie man das früher getan hat, hält er auch nicht für ganz richtig. Einige der größten Förderer der tschechischen Sprache wie der Jesuit Bohuslav Balbin seien schließlich Katholiken gewesen.

Fensterstürze hatten in Prag Tradition: Nach Zählung vieler tschechischer Historiker war der zweite sogar schon der dritte - nach dem Auslöser der Hussitenkriege 1419 und dem Aufstand von 1483, als es dem Prager Bürgermeister an den Kragen ging. Als der tschechoslowakische Außenminister Jan Masaryk im März 1948 - kurz nach der kommunistischen Machtübernahme - tot unter seinem Badezimmerfenster aufgefunden wurde, machte das Wort vom vierten Prager Fenstersturz schnell die Runde. Kroupa sagt: „Ob es ein Fenstersturz oder ein Selbstmord war, das ist immer noch ein Geheimnis.“